Immer wieder laufen auf der Berlinale Filme, die ihren Zuschauer*innen allgemeines Unwohlsein vermitteln wollen. Oft sind das eher platte und ätzende Gorefeste (doof) oder herzzerreißende Dokumentationen (schön, aber traurig). Surge von Anail Karia schafft aber das Kunststück, sowohl nervenaufreibend als auch ungemein rührend zu sein. Oha! weiterlesen →
Schlagwort: Filmkritik
Die Bilder zum Sprechen zwingen: Tipografic majuscul (Uppercase Print) von Radu Jude
Tipografic majuscul (Uppercase Print) von Radu Jude ist ein Zitat von Michel Foucault vorangestellt. In diesem beschreibt er die Rigorosität, mit dem die komplexe Realität einer Zeit in Akten kondensiert und reduziert wird, und den Gewaltakt, den die Wissenschaft vornehmen muss, wenn sie sich dieser Zeit über die Akten nähert. Damit ist das Programm dieses Dokumentarfilms bereits auf den Punkt gebracht: Über die zwei Stunden Laufzeit hinweg verarbeitet Radu Jude kompromisslos zwei unterschiedlichen Formen von „Akten“, um einen kleinen Teil der Realität des sowjetischen Rumäniens zu extrahieren. Dabei handelt es sich einerseits um Unterlagen der Geheimpolizei, und andererseits – um den ganzen Kram, der im rumänischen Staatsfernsehen so lief. Und miteinander verschaltet bieten diese grundverschiedenen Archive den Schlüssel, sich gegenseitig zu verstehen. Das ist anspruchsvoll, vielleicht sogar bisweilen ein bisschen zäh, aber es funktioniert so gut, dass ich nicht umhinkann, hier eine kleine kulturwissenschaftliche Schwärmerei anzustimmen. Ihr seid gewarnt.
If Rap goes Autoimmunkrankheit: Mogul Mowgli von Bassam Tariq
Als ich zugegebenermaßen ohne großes Vorwissen in Mogul Mowgli von Bassam Tarig ging, hatte ich vor allem Lust auf ein bisschen Rap und dann mal sehen. Die Musik trat allerdings schnell in den Hintergrund, was dem Film keinesfalls geschadet hat, da es hier um viel mehr als nur Musik geht. weiterlesen →
„Aber Nikolai, was sagst du denn dazu?“ – Malmkrog von Cristi Puiu
Zur 70. Berlinale haben sich die neuen Festivalorganisator*innen was ganz Besonderes ausgedacht: Mit Encounters gibt es eine neue Sektion, die vor allem neue Wege gehen und „ästhetisch und strukturell wagemutigen Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmschaffenden eine Plattform bieten“ will. An sich eine sehr spannende Idee. Zur Premiere von Malmkrog von Cristi Puiu stand dann auch Carlo Chatrian, der neue künstlerische Leiter des Festivals auf der Bühne, erklärte das Konzept und machte uns heiß auf einen einzigartigen Film. Dann schauen wir mal, Encounters, kann das was? Ich war gespannt. weiterlesen →
Di jiu tian chang (So long, my Son) von Wang Xiaoshuai – Der beste Film des Wettbewerbs
Chinesisches Kino wird auf Filmfestivals gerne durch eine ‚politische‘ Brille betrachtet: Jeder Film aus der Volksrepublik wird an seiner Antwort auf die Gretchenfrage nach der Systemkritik gemessen. Je klarer diese formuliert ist, desto wohlwollender wird der Film aufgenommen – außer natürlich, er wird von der Zensur kassiert, wie der diesjährige Wettbewerbsbeitrag Yi miao zhong (One Second) von Zhang Yimou, der aufgrund von „technischen Problemen“ abgesagt wurde (eine kritische Positionierung der Berlinale-Leitung hierzu steht übrigens noch aus, hust hust).
Di jiu tian chang (So long, my Son) von Wang Xiaoshuai ist diesem Schicksal entgangen, und das ist ein Grund zur Freude, da der Wettbewerb mit ihm seinen wohl besten Beitrag verloren hätte. Und ja, natürlich ist der Film auch politisch, und ja, dazu werde auch ich einige Worte verlieren. Unabhängig davon funktioniert So long, my Son aber als zeitloses Meisterstück über die entzweiende Kraft von Verlust und Schuld und die Möglichkeiten, diese zu überwinden.
Nichts Halbes und nichts Ganzes: To thávma tis thálassas ton Sargassón
To thávma tis thálassas ton Sargassón von Syllas Tzoumerkas ist ein eigenartiger Film. Er durchkreuzt seine eigenen Annahmen pausenlos und scheint eine ganze Weile vor allem auf Desorientierung und überfordertes Lachen abzuzielen. So etwas lässt sich eigentlich nur schwerlich bewerten, denn entweder, man steht auf abgedrehten Scheiß, oder eben nicht, oder? Nicht ganz, denn eine Regel gibt es bei Grotesken dann doch: Wenn du dich einmal in das Chaosland begibst, kannst du nicht mehr raus. Genau das versucht Sargassón aber, und in seiner Rückkehr zu einem ernsten Tonfall und kohärentem Handlungsablauf verspielt er die Immunität, die seine erste Hälfte noch innehatte.
Keine Sekunde zu lang – Systemsprenger von Nora Fingscheidt
Systemsprenger von Nora Fingscheidt ist ein Film, der sich viel Zeit nimmt, um auf den ersten Blick recht wenig zu erzählen. Ziemlich genau zwei Stunden lang beleuchtet er das Leben der titelgebenden ‚Systemsprengerin‘ Benni (Helena Zengel), einem neunjährigen Mädchen, das von Heim zu Heim und Erziehungsmaßnahme zu Erziehungsmaßnahme gebracht wird, nur um jedes Mal aufs Neue kurz darauf gewaltsam auszubrechen. Dabei wiederholt der Film beständig die zirkuläre Abfolge von Aggression zu Erschöpfung zu aufkeimender Hoffnung zu erneuter Aggression. Dieser gebetsmühlenartige Eskalationszyklus ist anstrengend und aufreibend anzuschauen, aber notwendig. Denn in der Wiederholung entfaltet Bennis Geschichte eine emotionale Schlagkraft, die es in sich hat. weiterlesen →
The Kindness of Strangers – Ein Eröffnungsfilm wie ein Kirchgang
Das Motiv ist offensichtlich: ‚Freundliche Fremde‘ – welch besseres Motto in Zeiten wachsender Xenophobie. Über einen platten Aufruf, nett zu sein, kommt der Film von Lone Scherfig allerdings leider nicht hinaus. Dafür ist er so weichgespült, dass es weh tut.
Dass und warum man von Eröffnungsfilmen nie viel erwarten sollte, hat ja Janosch bereits in seinem Beitrag aus Göteborg ausgeführt. Das hält mich allerdings nicht davon ab, immer wieder ins Staunen zu geraten, angesichts der wiederkehrenden Fehlgriffe eines Festivals wie der Berlinale, das den dezidierten Anspruch hat, ein politisches und kritisches Programm zu machen.
Fra Balkongen – Wir wollten gar keine Spanner sein!
„Ole Giæver zeigt seinen neuen Film auf dieser Berlinale“- das war der erste Satz, den man von mir im Vorfeld des Festivals auf die Frage zu hören bekam, worauf ich mich wohl am meisten freute. Denn Giævers letztes Werk Mot Naturen, der vor zwei Jahren auf den Filmfestspielen lief und die Geschichte eines Mannes erzählte, der alleine in der Natur auf sich, seine Ängste und die Krise seiner Ehe zurückgeworfen wird, hat mich tief berührt und war damals mein Lieblingsfilm der Berlinale. Nachdem ich Fra Balkongen nun endlich gesehen habe, muss ich zweierlei feststellen: Erstens, wer hier eine Art geistigem Nachfolger zu Mot Naturen erwartet, wird von diesem Film halb bestätigt, halb enttäuscht. Zweitens, Fra Balkongen hat mich leider eher ernüchtert als begeistert zurückgelassen. weiterlesen →
Mr.Long: Killerfilm mit Nickerchen
Der japanische Regisseur und Berlinale-Dauergast Sabu ist bekannt dafür in seinen Filmen erfolgreich Komik und Tragik zu mischen. Trotzdem geht in seinem Wettbewerbsbeitrag „Mr.Long“ das Rezept nicht wirklich auf. Selbst wenn es um einen Profikiller geht, der grandios gut kochen kann.