Jedes Bild eine Perle – Služobníci (Servants) von Ivan Ostrochovský

In einem grauen Innenhof, dessen unverputzte Ziegelwand bereits leicht bröckelt, hängt ein junger Mann ein weißes Laken an eine Wäscheleine. Er ist in ein tiefschwarzes Priestergewand gehüllt und hebt sich so vor Laken wie Wand deutlich ab. Eine ganze Weile steht er vor dem Tuch, das schließlich in einer leicht flatternden Bewegung zur Seite geschoben wird. Dahinter steht ein zweiter Junge, ebenfalls im Priestergewand, der mit verkniffenem Blick seinen Kameraden taxiert. Kein Wort gesprochen, alles gesagt, Služobníci (Servants) von Ivan Ostrochovský ist eine visuelle Offenbarung.

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Telefonkritik: ,Otac‘ von Srdan Golubović

Constantin kann dieses Jahr leider nicht auf der Berlinale sein und st darüber sehr traurig. So traurig, dass er immer mal wieder Anrufe braucht, in denen ihm jemand von den Filmen erzählt die sie gerade so gesehen haben. Und da hat er den einen Anruf einfach mitgeschnitten, der Schlingel! Und so hat es sich tatsächlich zugetragen.

Hier erzählt Sven Constantin von Otac von Srdan Golubović, der in der Sektion Panorama lief. Hört rein!

Sven und Constantin


Sektion: Panorama
Serbien / Frankreich / Deutschland / Kroatien / Slowenien / Bosnien und Herzegowina 2020
Regie: Srdan Golubović
Buch: Srdan Golubović, Ognjen Svilicić
Mit: Goran Bogdan, Boris Isaković, Nada Šargin 
Länge: 120’

Bildmaterial: Berlinale Filmstills: Panorama

Therapie im Wettbewerb: Siberia von Abel Ferrara

Mit Alterswerken ist das so eine Sache, gerade bei den „abgedrehten“ Regisseuren: Kompromisslos werden sie, aber manchmal erweist sich diese Kompromisslosigkeit eher als Träger von Renitenz denn von künstlerischem Furor. Während beispielsweise David Lynch mit Twin Peaks: The Return ein Meisterwerk abgeliefert hat, ist Alejandro Jodorowsky’s Endless Poetry zu einer langweiligen Verklärung der eigenen Biographie geronnen. Wo auf dieser Skala lässt sich da Ferrara einordnen? Nehmen wir hier nur Siberia und nicht Tomasso, Ferarras vorherigen Film, als Anhaltspunkt und schauen mal, worum sich Siberia denn überhaupt dreht.

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Die Bilder zum Sprechen zwingen: Tipografic majuscul (Uppercase Print) von Radu Jude

Tipografic majuscul (Uppercase Print) von Radu Jude ist ein Zitat von Michel Foucault vorangestellt. In diesem beschreibt er die Rigorosität, mit dem die komplexe Realität einer Zeit in Akten kondensiert und reduziert wird, und den Gewaltakt, den die Wissenschaft vornehmen muss, wenn sie sich dieser Zeit über die Akten nähert. Damit ist das Programm dieses Dokumentarfilms bereits auf den Punkt gebracht: Über die zwei Stunden Laufzeit hinweg verarbeitet Radu Jude kompromisslos zwei unterschiedlichen Formen von „Akten“, um einen kleinen Teil der Realität des sowjetischen Rumäniens zu extrahieren. Dabei handelt es sich einerseits um Unterlagen der Geheimpolizei, und andererseits – um den ganzen Kram, der im rumänischen Staatsfernsehen so lief. Und miteinander verschaltet bieten diese grundverschiedenen Archive den Schlüssel, sich gegenseitig zu verstehen. Das ist anspruchsvoll, vielleicht sogar bisweilen ein bisschen zäh, aber es funktioniert so gut, dass ich nicht umhinkann, hier eine kleine kulturwissenschaftliche Schwärmerei anzustimmen. Ihr seid gewarnt.

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Tough Love: „Kød & Blod (Wildlands)“ von Jeanette Nordahl

Von den 246 Langfilmen, die auf dieser Berlinale laufen, kommen etwa 60 (zumindest als Koproduktionen) aus Deutschland, um die 30 aus Frankreich, und aus Argentinien immerhin 7. Aus Dänemark kommen zwei – und einer davon ist ein Animationsfilm. Das ist enttäuschend wenig für jemand, der immer auf skandinavisches Kino geiert, zumal Filme aus Schweden, Norwegen und Finnland im diesjährigen Programm ebenso spärlich gesät sind. Mit dementsprechend ängstlicher Erwartungshaltung ging ich also in den einzigen für mich verbliebenen dänischen Film – was, wenn der jetzt nicht gut wäre? Die Sorgen waren unbegründet: Kød & Blod, der erste Langfilm von Jeanette Nordahl, ist ziemlich gut geworden.

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Di jiu tian chang (So long, my Son) von Wang Xiaoshuai – Der beste Film des Wettbewerbs

Chinesisches Kino wird auf Filmfestivals gerne durch eine ‚politische‘ Brille betrachtet: Jeder Film aus der Volksrepublik wird an seiner Antwort auf die Gretchenfrage nach der Systemkritik gemessen. Je klarer diese formuliert ist, desto wohlwollender wird der Film aufgenommen – außer natürlich, er wird von der Zensur kassiert, wie der diesjährige Wettbewerbsbeitrag Yi miao zhong (One Second) von Zhang Yimou, der aufgrund von „technischen Problemen“ abgesagt wurde (eine kritische Positionierung der Berlinale-Leitung hierzu steht übrigens noch aus, hust hust).

Di jiu tian chang (So long, my Son) von Wang Xiaoshuai ist diesem Schicksal entgangen, und das ist ein Grund zur Freude, da der Wettbewerb mit ihm seinen wohl besten Beitrag verloren hätte. Und ja, natürlich ist der Film auch politisch, und ja, dazu werde auch ich einige Worte verlieren. Unabhängig davon funktioniert So long, my Son aber als zeitloses Meisterstück über die entzweiende Kraft von Verlust und Schuld und die Möglichkeiten, diese zu überwinden.

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Temblores von Jayro Bustamante – Ein Hoch auf zurückgenommenes Kino

Der guatemalische Regisseur Jayro Bustamante kehrt nach vier Jahren zurück zur Berlinale. Während sein Debütfilm Ixcanul im Wettbewerb gelaufen ist, erscheint sein zweiter Langspielfilm Temblores im Panorama. Bustamantes Herangehensweise hat sich dabei nicht geändert: Wie auch Ixcanul ist Temblores zu einem Teil beobachtende Gesellschaftsbeschreibung und zu einem Teil persönliches Drama über eine Figur, die von den gesellschaftlichen Zwängen an der Selbstentfaltung gehindert wird. Im Vergleich mit seinem Debütfilm erlaubt Bustamante sich hier jedoch, deutlich klarer Kritik an den gesellschaftlichen Umständen zu formulieren und sie in ihren eigenen Widersprüchen zu verwickeln. Dabei bleibt sein Blick nüchtern und zurückgenommen und lässt vielmehr die Figuren und ihre Emotionen sprechen, als diese offensiv zu inszenieren. Genau die richtige Entscheidung.

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Nichts Halbes und nichts Ganzes: To thávma tis thálassas ton Sargassón

To thávma tis thálassas ton Sargassón von Syllas Tzoumerkas ist ein eigenartiger Film. Er durchkreuzt seine eigenen Annahmen pausenlos und scheint eine ganze Weile vor allem auf Desorientierung und überfordertes Lachen abzuzielen. So etwas lässt sich eigentlich nur schwerlich bewerten, denn entweder, man steht auf abgedrehten Scheiß, oder eben nicht, oder? Nicht ganz, denn eine Regel gibt es bei Grotesken dann doch: Wenn du dich einmal in das Chaosland begibst, kannst du nicht mehr raus. Genau das versucht Sargassón aber, und in seiner Rückkehr zu einem ernsten Tonfall und kohärentem Handlungsablauf verspielt er die Immunität, die seine erste Hälfte noch innehatte.

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Keine Sekunde zu lang – Systemsprenger von Nora Fingscheidt

Systemsprenger von Nora Fingscheidt ist ein Film, der sich viel Zeit nimmt, um auf den ersten Blick recht wenig zu erzählen. Ziemlich genau zwei Stunden lang beleuchtet er das Leben der titelgebenden ‚Systemsprengerin‘ Benni (Helena Zengel), einem neunjährigen Mädchen, das von Heim zu Heim und Erziehungsmaßnahme zu Erziehungsmaßnahme gebracht wird, nur um jedes Mal aufs Neue kurz darauf gewaltsam auszubrechen. Dabei wiederholt der Film beständig die zirkuläre Abfolge von Aggression zu Erschöpfung zu aufkeimender Hoffnung zu erneuter Aggression. Dieser gebetsmühlenartige Eskalationszyklus ist anstrengend und aufreibend anzuschauen, aber notwendig. Denn in der Wiederholung entfaltet Bennis Geschichte eine emotionale Schlagkraft, die es in sich hat. weiterlesen →