Keine Sekunde zu lang – Systemsprenger von Nora Fingscheidt

Systemsprenger von Nora Fingscheidt ist ein Film, der sich viel Zeit nimmt, um auf den ersten Blick recht wenig zu erzählen. Ziemlich genau zwei Stunden lang beleuchtet er das Leben der titelgebenden ‚Systemsprengerin‘ Benni (Helena Zengel), einem neunjährigen Mädchen, das von Heim zu Heim und Erziehungsmaßnahme zu Erziehungsmaßnahme gebracht wird, nur um jedes Mal aufs Neue kurz darauf gewaltsam auszubrechen. Dabei wiederholt der Film beständig die zirkuläre Abfolge von Aggression zu Erschöpfung zu aufkeimender Hoffnung zu erneuter Aggression. Dieser gebetsmühlenartige Eskalationszyklus ist anstrengend und aufreibend anzuschauen, aber notwendig. Denn in der Wiederholung entfaltet Bennis Geschichte eine emotionale Schlagkraft, die es in sich hat.

Aber nochmal auf Anfang (den es in einer Kreisbahn und dementsprechend auch im Film ja nicht so richtig geben kann): Benni ist mit Medikamenten vollgepumpt in einer psychiatrischen Klinik, ruhiggestellt, alles gut, bald besser. Ihre Blessuren lassen bereits darauf schließen, dass – Schnitt – „FICK DICH!“. Prügelei im Heim, dem Erzieher ins Gesicht gespuckt, an einer Pritsche fixiert. Neues Heim, alles gut, aber Mama kommt nicht, nur der neue Schulbegleiter und Jugendarbeiter Micha (Albrecht Schuch).  Wieder Ausrasten, Küchenmesser an die eigene Kehle, später ausgebüchst und zu den kleinen Geschwistern und Mama gefahren, doch ihr aggressiver Freund ist wieder da, also – und wieder geht es von vorne los. Dabei bleibt die Kamera stets auf Bennis Augenhöhe und passt sich ihren sprunghaft umschwenkenden Emotionen an, sodass sich nie das beklemmend-nervige Gefühl einstellt, einem schreienden Kind im Flugzeug zuzusehen. Stattdessen werden wir mit ihr auf eine Ebenegestellt, und Bennis Aggression bleibt zu jeder Zeit nicht nur nachvollziehbar, sondern auch nachempfindbar.

Damit unterhält Systemsprenger mit Leichtigkeit – bis seine Wucht zum Publikum durchdringt und er mehr wird, als unterhaltsam. Im weiteren Fortschreiten des Strudels aus Hoffnung und Enttäuschung, auf die kindliche Freude und zerstörerische Wut folgen, verschwindet graduell die emotionale Distanz zwischen Zuschauenden und Film. Die Variationen von Bennis Ausfällen sind nämlich nicht stets dieselben, sondern verschieben sich ebenfalls nach und nach. Erscheinen sie zu Beginn noch rebellisch und triumphal, werden sie bald schockierend und schließlich tragisch und zutiefst schmerzhaft. So richtet sich Bennis Gewalt nicht nur auf sich selbst und sabotiert nach und nach sämtliche sozialen Beziehungen, die sie hat, sie wird vor allem ausweglos. Ausrasten ist die einzige Option gegen die Machtlosigkeit und den tiefsitzenden Schmerz, den auch das Publikum immer stärker mitempfindet. All das wäre nicht möglich ohne die unglaubliche schauspielerische Leistung von Helena Zengel. Sie wechselt nicht nur mühelos die verschiedenen Register brachialer Emotion zwischen ungeheurer Reife, purer Freude, vorlautem Anspruch und schließlich brachialer Aggression. In Benni liegt nie nur eine einzige Emotion, sondern immer auch – Trauer, Angst, Trauma. Sei es im stimmversagenden Schreien, im fürsorglichen Kümmern um andere Kinder oder in ihren katatonischen Blicken – die Spuren von Verletzbarkeit und Verletzung in ihrem Gesicht dringen tief. Diese Reichweite und zugleich Viszeralität im Spiel ist bemerkenswert, für eine 11-jährige geradezu beängstigend.

Gerahmt wird Bennis Leidensweg durch regelmäßige Perspektivwechsel zu den Erwachsenen, ihrer Mutter und den Jugendarbeiter_innen, die versuchen, Benni in die Gesellschaft zu integrieren oder eher, sie irgendwie aus der Gewaltspirale zu entreißen und zu stabilisieren. Zu Beginn des Filmes stören diese beinahe und wirken unorganisch, doch mit fortlaufender Wiederholung sehen wir auch ihnen die langsam aber sicher fortschreitende Zerrüttung an, die die ständig ins Leere laufenden Bemühungen in ihnen auslöst. Auch dafür braucht Systemsprenger also Zeit, und zum Glück nimmt er sie sich. So viel hätte hier schief gehen können, dieser Film hätte so nervig und anstrengend werden können. Mit einer selbstbewussten Unbeirrtheit, die sich auch auf ein tolles, vielschichtiges und nuanciertes Skript stützen kann, hat Nora Fingscheidt jedoch einen außergewöhnlichen Film geschaffen, der zwar anstrengend ist, aber auf eine gute, herzzerreißende Weise.

Sven


Systemsprenger (Wettbewerb)Länge: 118’
Regie: Tamer Jandali
mit: Helena Zengel, Albrecht Schuch, Gabriela Maria Schmeide, Lisa Hagmeister, Melanie Straub
Produktion: Deutschland 2019

Bildmaterial: Filmstill Berlinale, Sektion: Wettbewerb

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