Bis zum Zerreißen gespannt: Hostages

Die Tiflisser Flugzeugentführung 1983 ist als einer der gewaltsamsten Momente des Widerstandes gegen die Sowjetregierung in die Geschichte Georgiens eingegangen und gilt dort heute als nationale Tragödie. Damals versuchten sieben junge Ärzte und Künstler, gewaltsam ein Passagierflugzeug zu kapern, um mit ihm in die Türkei zu fliehen und die UdSSR hinter sich zu lassen. Der Plan ging schief, einige Entführer sowie Passagiere und Crewmitglieder verloren ihr Leben, und an den übrigen Mitverschwörern wurde von der KP ein Exempel statuiert. Dem Fluchtversuch dieser jungen Georgier hat sich Rezo Gigineishvili in seinem neuesten Film Hostages angenommen und dem Berlinalepublikum damit nicht nur einen spannenden, sondern auch unkonventionellen Thriller beschert.

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Provisorische Familie und ein Penisberg: Karera ga honki de amu toki wa (Close-Knit)

Tomo geht in die fünfte Klasse und steht alleine auf, zieht sich alleine an, geht zur Schule. Auf dem Tisch liegen in Plastik verpackte Onigiri aus dem Convenience Store. Alles wie jeden Tag. Dann liegt da eines Morgens aber auch noch ein Zettel und es wird klar: Tomos Mutter hat nicht zum ersten Mal den Job gekündigt und läuft vor ihrer Tochter weg. Als Tomo bei ihrem Onkel aufgenommen wird, zieht sie auch mit seiner neuen Frau Rinko zusammen, die früher mal ein Mann war. Rinko nimmt den Neuzugang liebevoll auf, kocht fantastisch und bald entspinnt sich zwischen den beiden eine fragile Mutter-Tochter-Beziehung. weiterlesen →

The Dinner: Laberlaber, Streit und Richard Giiiiier

Zwei Paare treffen sich zum Essen, haben wenig Lust und irgendwie geht es um ihre Kinder. Das klingt erst einmal nach „Der Gott des Gemetzels“, dem Theaterstück von Yasmina Reza, dessen Verfilmung von Roman Polanski mir vor ein paar Jahren viel Spaß bereitet hat. Das waren zumindest meine ersten Gedanken, bevor ich in „The Dinner“ von Oren Moverman gegangen bin. Mit Steve Coogan, Laura Linney, Rebecca Hall und allen voran dem zweimaligen Sexiest Man Alive (93 und 99) Richard Gere *schmacht* ist der Film zudem sehr stark besetzt. Könnte vielleicht was werden, vielleicht aber auch nicht. weiterlesen →

Nix mit Business as usual!

Es geht los! Nein, es ist schon losgegangen! Ich habe noch alle Tipps und Ratschläge der anderen Kinder in den Ohren (Müsliriegel! Kiwis! Zwei Wecker stellen!) und schon ist der erste Tag fast vorbei.
Morgens in der Schlange scheint alles Business as usual. Die Kinder begrüßen andere Berlinalegänger, es wird diskutiert, organisiert, ausgewählt. Unter allem liegt so eine leise Aufregung, die Leute sind früh aufgestanden und das Koffein des ersten Kaffees bahnt sich erst jetzt den Weg durch den Blutkreislauf. 6 Uhr 54 erschiele ich auf der Uhr meines Schlangennachbarn und freue mich wahnsinnig auf den Moment, wenn der ganze Trubel verschwindet, die Lichter ausgehen und es endlich nur noch um eins geht: Filme schauen.
Der Moment kommt schneller als gedacht und zack habe ich drei neue Filme im Gepäck, stehe auf dem Potsdamer Platz und bin noch zu überwältigt um irgendetwas zu sagen, außer dass mein Magen knurrt und der Wind echt ganz schön kalt ist.
Ich beobachte wie sich an der Ecke des Cinemaxx eine Gruppe Menschen am Zaun sammelt. Auf wen da wohl gewartet wird? Die Wachleute in Neonwesten geben sich zumindest Mühe ihr amüsiertes Lächeln zu verbergen und professionell auszusehen.
Ich wandere noch ein bisschen zwischen den Menschen herum und knabbere an einem Müsliriegel (Danke, Sven!). Die Worte kommen dann ganz von selbst:
Hey, ich bin Karen, die neue Autorin bei den Kindern, und ich freue mich auf eine fantastische, wilde, kalte, hungrige, zärtliche, aufregende Berlinale mit euch!

Von Hirschen und Menschen – Teströl és lélekröl (On Body and Soul)

Ein in mattes Weiß getauchter Wald, vereinzelt an den Stämmen herunterrieselnder Schnee, der von einer kleinen Brise erfasst wird, bevor er sich legt. Durch die Stille stapft ein Paar, er voraus, mit wachsamem Blick die Umgebung untersuchend, während sie hinter ihm zögert, stehen bleibt. Gemächlich kommt er zurück zu ihr, legt seinen Kopf über ihre Schulter, beruhigt sie, bis sie nach einigen Momenten weitergehen kann. Bei dem Paar handelt es sich um einen Hirsch und ein Reh, deren Wanderung durch die Wildnis den Rahmen von Ildikó Enyedis teils behutsamer, teils meditativer Liebesgeschichte Testről és lélekről (On Body and Soul) bildet. weiterlesen →

Wider das digitale Armageddon: Zero Days

Dieser aufwendig produzierte Dokumentarfilm von Alex Gibney wird wahrscheinlich einen Preis bekommen. Einfach, weil sein Thema so aktuell und politisch ist und um seine investigative Arbeit anzuerkennen: Es geht um „stux net“, den berüchtigten Computer-Virus, der vor inzwischen schon einigen Jahren durch die Medien ging und von dem bis heute niemand so recht sagen, wo er eigentlich herkam und was sein Zweck gewesen ist. Klar schien bisher nur, dass er weiträumigen Schaden angerichtet hat, nicht zuletzt in den USA, dass er außergewöhnlich raffiniert programmiert war, was eine staatliche Beteiligung wahrscheinlich macht, und dass sein eigentlicher Einsatzzweck mit der Sabotage des iranischen Atomprogramms zu tun gehabt zu haben scheint. Der Film bestätigt nun all dieses Halbwissen, aber er versucht vor allem, die Einzelheiten dieser Geschichte herauszufinden und vermitteln: durch eine Vielzahl von Insider-Interviews mit den Antivirus-Experten die StuxNet entdeckt und analysiert haben, einem Journalisten, der ein Buch über Cyberwars geschrieben hat, sowie (und dafür wird es einen Preis geben) mit verschiedenen Geheimdienstleuten von CIA, NSA und Mossad.

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Diary of a Sorrowful Mystery — Hele Sa Hiwagang Hapis

Hele Sa Hiwagang Hapis
A Lullaby to the Sorrowful Mystery

Am Donnerstag lief Hele Sa Hiwagang Hapis- A Lullaby to the Sorrowful Mystery im Wettbewerb der Berlinale an. Der Regisseur, Lav Diaz, ist vor allem für seine langen Werke bekannt, die sich meist mit der Geschichte seines Heimatlandes, den Philippinen auseinandersetzen. Für diesen Ansatz wurde Diaz bereits mit zahlreichen Preisen bedacht, zuletzt mit dem Goldenen Leoparden, dem Hauptpreis der Filmfestspiele von Locarno. A Lullaby to the Sorrowful Mystery beschäftigt sich mit der Geschichte von Andres Bonifacio, der als Vater der philippinischen Revolution verehrt wird. Dafür nimmt sich der Film 485 Minuten, in Worten: ACHT STUNDEN UND FÜNF MINUTEN lang Zeit. Das wirkte erstmal natürlich abschreckend. Da ich aber der Meinung war, dass wir diesen außergewöhnlichen Wettbewerbsbeitrag in unserem Blog behandeln sollten, habe ich mich morgens um halb zehn ins Kino gewagt, um eine Kritik und eine Art Erfahrungsbericht zum Erlebnis ‚Achtstundenfilm‘ zu verfassen. Was folgte, war eine der anstrengendsten und – pardon my French – beschissensten Kinoerlebnisse, an die ich mich erinnern kann. Bevor ich besonders auf den Film eingehe, möchte ich nun, als eine Art Selbsttherapie, meine Erlebnisse in Tagebuchform wiedergeben. Nur kurz vorab: Nein, ich habe den Film nicht zu Ende durchgehalten, tut mir Leid euch enttäuschen zu müssen.

Donnerstag morgens. Berlinale Palast.

-0:25: Bald geht es los. Ich nehme gemeinsam mit meinem Buddy Tom, der sich bereit erklärt hat, mir bei dem Screening Beistand zu leisten, Platz auf der linken Seite in einer der vorderen Reihen des zweiten Ranges. Für alle, die noch nie im Berlinale Palast waren: ziemlich links, sehr weit oben.

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Blasse Charaktere und brave Konventionen: Genius

Wenn es um die großen Werke der modernen Literatur (und um Literatur überhaupt) geht, wird oft die Arbeit der Lektoren vergessen, die in diese Bücher eingeflossen ist und sie oft erst zu dem gemacht hat, was die Öffentlichkeit dann als ‚geniales‘ Werk bestimmt. In dieser Hinsicht ist der Ansatz von Genius (Regie: Michael Grandage) durchaus lobenswert: Er zeigt beispielhaft die Bedeutung des Lektorats für die Entstehung guter Bücher, den wesentlichen Anteil, den es am ‚Genie‘ eines Werks hat, am Beispiel von Max Perkins (‚Entdecker‘ von Hemingway und Fitzgerald) und seinem ambivalenten Verhältnis zum Jungautor Thomas Wolfe in den späten 1920er Jahren. Wie gesagt, der Ansatz ist lobenswert – aber was der Film daraus macht, ist es leider ganz und gar nicht.

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Europas Krisen unter dem Brennglas: Mort à Sarajevo

Dass das ‚europäische Haus‘ sich in keinem guten Zustand befindet, hören wir ja schon seit einer Weile. Mort à Sarajevo (Death in Sarajevo) von Danis Tanović nimmt diese Metapher wörtlich und projiziert die europäische Gemengelage auf ein kriselndes „Hotel Europa“ in Sarajevo, in Anlehnung an Bernard-Henri Lévys geichnamiges Theaterstück. Klingt nach einer spannenden Versuchsanordnung – aber geht sie auch auf?

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