Vazante: Wie ein Gewitter

Es beginnt mit dem leisen Plätschern von Regen und einem schmerzerfüllten Schrei. Die Kamera gleitet von dem verschwitzten Gesicht einer Frau über ihren geschwollenen Bauch zu ihrer Sklavin, die um das Leben von Frau und Kind kämpft, doch die Hand der Hausherrin hebt sich und sinkt langsam hinab. Mutter und Kind sterben. Ihr Tod setzt im Haushalt des  Kolonialherren und Minenbesitzers Antonio eine Entwicklung in Gang, die immer unausweichlicher wird.

Nun alleine mit seiner umnachteten Schwiegermutter und den Arbeitern und Sklaven, heiratet Antonio nach kurzem Zusammenbruch die zwölfjährige Nichte seiner Frau, Beatriz. Neben der kindlichen Verspieltheit, die Antonio zunächst auf sie aufmerksam gemacht hat, folgt Beatriz entgegen der herrschenden Machtverhältnisse ihrem eigenen Gespür. Plötzlich ist das Mädchen mit einem Leben und einer Rolle konfrontiert, die eigentlich einer viel älteren Frau gehört. Vom wortkargen und strengen Antonio unbemerkt schließt sie sich dem Rudel von Sklavenkindern an, darunter auch Virgílio, ein Junge in ihrem Alter. Für den gesamten Haushalt wird dies weitreichende Konsequenzen haben.

Neben dem Tod seiner Frau sieht sich Antonio aber auch mit dem wirtschaftlichen Überleben der kolonialen Unternehmung konfrontiert. Die Bodenschätze von denen er profitiert hat sind erschöpft und er muss somit eine neue Einkunftsmöglichkeit finden. Der Pflanzer und freigelassene Sklave Jeremias füllt diese Lücke mit seinem Wissen über Viehzucht und Landwirtschaft. Diesem steigt seine neue Machtposition doch bald zu Kopf und er übt gnadenlos Gewalt gegenüber den Mitgliedern des Haushalts aus – ungeachtet der Tatsache, dass er selbst einmal versklavt war. Ein besonderes Auge hat er auf einen mutigen Mann geworfen, der eine fremde Sprache spricht und es schon ganz zu Beginn geschafft hat, seine Mitsklaven zu Widerstand anzustiften. Dass diese Geschichte nicht gut ausgeht, kann man sich denken. Insgesamt positioniert sich der Film mit diesen Charakteren aber sehr erfolgreich jenseits einfacher Antworten oder Heroisierungen und spiegelt die Komplexität kolonialer Machtgefüge wieder.

In starken schwarz-weiß Bildern erzählt die Regisseurin Daniela Thomas durch diesen Mikrokosmos  eine Ursprungsgeschichte des heutigen Brasiliens und führt den Zuschauer in das Brasilianische Gedächtnis. Poetische Bilder des Hochlandes kontrastieren mit der brutalen Lebensrealität der Menschen.  Somit ist der Film auch eine Suche nach Identität und zeigt eine Zeit, die Brasilien zu dem gemacht hat, was es heute ist: eine weiterhin gespaltene Gesellschaft.

Fest in der Vergangenheit verankert und historisch genau recherchiert, entfaltet sich ein dicht gewobenes Bild kolonialer Gewalt, dass zugleich spezifisch in Ort und Zeit ist und exemplarisch für eine Vielfalt von Geschichten steht.  Ein Drehbuch, das an den richtigen Stellen zu Schweigen weiß, und starke Schauspieler in allen Rollen tragen ihren Teil zu einem gelungenen Film bei.  Bei allen Feinheiten: Die Figurenkonstellation ist keinesfalls neu für die brasilianische Medienlandschaft. Das zeigt ein Blick auf die anderen Produktionen der Firma Globo, die auch „Vazante“ produzierte.  Es ist das Bild des brasilianischen Klassensystems: Der Patriarch und eine weiße, ärmere Familie, die unter dem Patriarchen leidet; gutmütige, schwarze Bedienstete und eine rebellische oder andersdenkende Figur. Letzteres ist bei „Vazante“ zumindest gleich dreifach vorhanden in Beatriz, Jeremias und dem unbekannten, neuen Sklaven. Nur welche Rolle die indigene Bevölkerung in dieser Zeit kurz vor der Unabhängikeit spielte, kann der Film nicht beantworten. Sie wird nur vage als gefährliche Bedrohung erwähnt.

„Vazante“ beginnt langsam und verwebt alle Details und komplexe Figuren mit einer konzentrierten Kameraführung zu immer größerer Spannung. Bis klar wird, dass irgendetwas nachgeben muss, bevor der Mikrokosmos völlig implodiert. Wie ein Gewitter braut sich der Konflikt zusammen und entlädt sich mit selbstverständlicher Konsequenz in ein paar wenigen donnernden Minuten, die in Erinnerung bleiben. Unbedingt anschauen!

Karen & Jürgen

 

(Bildmaterial: Berlinale Stills Sektion: Panorama)

 

 

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