Woo Sang von Li Su-jin – Vollgas vom Anfang bis zum Schluss

„Oh Gott, bitte keine Festivalfilme mehr!“ So oder so ähnlich hört man mich gen Ende der Berlinale jeden Tag in der Schlange aufstöhnen, wenn mir die tiefsinnigen, oft etwas schwerfälligen und im Festivalprogramm dominierenden Dramen zum Hals raushängen. Woo Sang von Li Su-jin versprach mir da eine willkommene Abwechslung – ein koreanischer Thriller, das wird bestimmt cool! Aber 140 Minuten lang? Egal, einen Versuch ist es wert. 20 Uhr im Zoopalast, Weltpremiere, die Filmcrew ist da und hat sich rausgeputzt. Kurz Applaus, „Gute Projektion“ und los gehts.

Aus dem Off ertönt der erste Satz des Films „Ich habe meinem Sohn einen runtergeholt, seit er 13 war.“ Nach ein paar weiteren Minuten ist mir und meinen Sitznachbarn klar: wenn der Film dieses Tempo hält, haben wir einen wilden Ritt vor uns.

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Selfie – ein neapolitanisches Selbstportrait (Audiokritik)

Im Jahr 2014 wurde in einem Vorort von Neapel ein 16-jähriger von einem Polizisten erschossen – die meisten Medien machten schnell einen Kriminellen aus ihm. Zu Unrecht. Um diesem Bild etwas entgegenzusetzen, drückte er zwei Jungen aus der Nachbarschaft ein Smartphone in die Hand und ließ sie den Alltag im Viertel filmen. Herausgekommen ist ein unheimlich berührendes Dokument einer Freundschaft und eine kraftvolle Selbstbehauptung gegen soziale Vorurteile. Mehr erfahrt ihr in der Kurzkritik – in der auch der Regisseur selbst zu Wort kommt. Bildmaterial: Berlinale Filmstills; Panorama
Selfie
Sektion: Panorama Dokumente
Regie: Agostino Ferrente
Mit: Alessandro Antonelli, Pietro Orlando
Länge: 77'

Di jiu tian chang (So long, my Son) von Wang Xiaoshuai – Der beste Film des Wettbewerbs

Chinesisches Kino wird auf Filmfestivals gerne durch eine ‚politische‘ Brille betrachtet: Jeder Film aus der Volksrepublik wird an seiner Antwort auf die Gretchenfrage nach der Systemkritik gemessen. Je klarer diese formuliert ist, desto wohlwollender wird der Film aufgenommen – außer natürlich, er wird von der Zensur kassiert, wie der diesjährige Wettbewerbsbeitrag Yi miao zhong (One Second) von Zhang Yimou, der aufgrund von „technischen Problemen“ abgesagt wurde (eine kritische Positionierung der Berlinale-Leitung hierzu steht übrigens noch aus, hust hust).

Di jiu tian chang (So long, my Son) von Wang Xiaoshuai ist diesem Schicksal entgangen, und das ist ein Grund zur Freude, da der Wettbewerb mit ihm seinen wohl besten Beitrag verloren hätte. Und ja, natürlich ist der Film auch politisch, und ja, dazu werde auch ich einige Worte verlieren. Unabhängig davon funktioniert So long, my Son aber als zeitloses Meisterstück über die entzweiende Kraft von Verlust und Schuld und die Möglichkeiten, diese zu überwinden.

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Born in Evin – bewegende Spurensuche und politisches Statement (Audio-Kritik mit Constantin)

Heute ist Maryam Zareeh eine erfolgreiche deutsche Schauspielerin – in die Wege gelegt war ihr das jedoch nicht: Denn geboren wurde sie in einem iranischen Gefängnis, ihre Eltern war dort als Oppositionelle inhaftiert. Mehr jedoch haben sie ihr nie erzählt. In „Born in Evin“ erzählt Zareeh von ihrer mehrjährigen Recherche-Reise, um ihrer eigenen Geburt auf die Spur zu kommen – und verbindet dabei das Persönliche mit dem Politischen. Das Ergebnis hat mich zu Tränen gerührt – auch wenn er am Ende keine ganz runde  Sache ist. Im Gespräch mit Sven erzähle ich, warum.

Bildmaterial: Berlinale Filmstills; Perspektive deutsches Kino

Born in Evin
Sektion: Perspektive deutsches Kino
Regie: Maryam Zaree
Produktion: Deutschland / Österreich 2019
Länge: 95'

African Mirror – Im Spiegel europäischer Phantasmen

Die Schweizer Doku von Mischa Hedinger ist kein Film über Afrika, sondern über Europa – über die Phantasmen und Vorurteile, die weiße Europäer*innen auf den afrikanischen Kontinent projiziert haben und immer noch projizieren. Und auch der Begriff der Doku trifft es nicht ganz – am ehesten könnte man den Film vielleicht als Essayfilm bezeichnen, insofern sich der Regisseur explizit auf Harun Farocki beruft.

Gegenstand und Material von African Mirror bilden die Aufnahmen des Schweizer Afrikareisenden und -filmers René Gardi, der in den 1950er und 60er Jahren mit Büchern und Filmen das Afrika-Bild in und außerhalb der Schweiz entscheidend mitgeprägt hat – und bis heute prägt. Sein Blick auf den Kontinent und die Menschen dort ist geprägt von kolonialer Bevormundung und Rassismus, kaschiert durch vorgeschobenes Wohlwollen.

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Temblores von Jayro Bustamante – Ein Hoch auf zurückgenommenes Kino

Der guatemalische Regisseur Jayro Bustamante kehrt nach vier Jahren zurück zur Berlinale. Während sein Debütfilm Ixcanul im Wettbewerb gelaufen ist, erscheint sein zweiter Langspielfilm Temblores im Panorama. Bustamantes Herangehensweise hat sich dabei nicht geändert: Wie auch Ixcanul ist Temblores zu einem Teil beobachtende Gesellschaftsbeschreibung und zu einem Teil persönliches Drama über eine Figur, die von den gesellschaftlichen Zwängen an der Selbstentfaltung gehindert wird. Im Vergleich mit seinem Debütfilm erlaubt Bustamante sich hier jedoch, deutlich klarer Kritik an den gesellschaftlichen Umständen zu formulieren und sie in ihren eigenen Widersprüchen zu verwickeln. Dabei bleibt sein Blick nüchtern und zurückgenommen und lässt vielmehr die Figuren und ihre Emotionen sprechen, als diese offensiv zu inszenieren. Genau die richtige Entscheidung.

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