Gedanken aus der Schlange

Wer nicht über den roten Teppich schwebt, ganz klar, der und die muss bei der Berlinale Schlange stehen. Das habe ich gleich am ersten Tag gemerkt und heute prompt vergessen mein Handyakku aufzuladen. Wunderbar, das mache ich jetzt immer so, denn in der Berlinaleschlange lernt man nicht nur nette Leute kennen (Hallo Gabi und Hendrik, falls ihr das lest!), sondern hat auch sehr viel Zeit zum Nachdenken. Zum Beispiel wie man eigentlich über Filme spricht.

Filme schauen ist für mich ein sehr persönliches Erlebnis. Mit dem Film schaut man auch immer ein bisschen in sich selbst hinein, in den eigenen Blick. Wie also von dem Moment heute Morgen bei „Vazante“ berichten, wenn sich fast zwei Stunden Film zu einem Moment der Vorahnung verdichten…? Kritiken schreiben ist im Vergleich dazu etwa so ergreifend wie Kochrezepte schreiben. Man nehme ein mittelgroßes Drehbuch, 300gramm  Regie und würze es mit einem kräftigen Schuss an tollen Schauspielern.  Obwohl das Schreiben natürlich manchmal hilft zu klären was man da eigentlich gerade gesehen hat…

Nichts desto trotz: Wie treffend und präzise die Worte zum Film auch sind, wie es genau am Ende schmeckt weiß nur der mit dem Löffel in der Hand. Und das ist ja auch das Faszinierende am Filme schauen. Eine Kritik – ob lang oder kurz, philsophisch, gesellschaftskritisch oder persönlich –  kann eigentlich immer nur eins sagen: Geh hin und schau selbst.

Bis zum Zerreißen gespannt: Hostages

Die Tiflisser Flugzeugentführung 1983 ist als einer der gewaltsamsten Momente des Widerstandes gegen die Sowjetregierung in die Geschichte Georgiens eingegangen und gilt dort heute als nationale Tragödie. Damals versuchten sieben junge Ärzte und Künstler, gewaltsam ein Passagierflugzeug zu kapern, um mit ihm in die Türkei zu fliehen und die UdSSR hinter sich zu lassen. Der Plan ging schief, einige Entführer sowie Passagiere und Crewmitglieder verloren ihr Leben, und an den übrigen Mitverschwörern wurde von der KP ein Exempel statuiert. Dem Fluchtversuch dieser jungen Georgier hat sich Rezo Gigineishvili in seinem neuesten Film Hostages angenommen und dem Berlinalepublikum damit nicht nur einen spannenden, sondern auch unkonventionellen Thriller beschert.

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Provisorische Familie und ein Penisberg: Karera ga honki de amu toki wa (Close-Knit)

Tomo geht in die fünfte Klasse und steht alleine auf, zieht sich alleine an, geht zur Schule. Auf dem Tisch liegen in Plastik verpackte Onigiri aus dem Convenience Store. Alles wie jeden Tag. Dann liegt da eines Morgens aber auch noch ein Zettel und es wird klar: Tomos Mutter hat nicht zum ersten Mal den Job gekündigt und läuft vor ihrer Tochter weg. Als Tomo bei ihrem Onkel aufgenommen wird, zieht sie auch mit seiner neuen Frau Rinko zusammen, die früher mal ein Mann war. Rinko nimmt den Neuzugang liebevoll auf, kocht fantastisch und bald entspinnt sich zwischen den beiden eine fragile Mutter-Tochter-Beziehung. weiterlesen →

The Dinner: Laberlaber, Streit und Richard Giiiiier

Zwei Paare treffen sich zum Essen, haben wenig Lust und irgendwie geht es um ihre Kinder. Das klingt erst einmal nach „Der Gott des Gemetzels“, dem Theaterstück von Yasmina Reza, dessen Verfilmung von Roman Polanski mir vor ein paar Jahren viel Spaß bereitet hat. Das waren zumindest meine ersten Gedanken, bevor ich in „The Dinner“ von Oren Moverman gegangen bin. Mit Steve Coogan, Laura Linney, Rebecca Hall und allen voran dem zweimaligen Sexiest Man Alive (93 und 99) Richard Gere *schmacht* ist der Film zudem sehr stark besetzt. Könnte vielleicht was werden, vielleicht aber auch nicht. weiterlesen →

Nix mit Business as usual!

Es geht los! Nein, es ist schon losgegangen! Ich habe noch alle Tipps und Ratschläge der anderen Kinder in den Ohren (Müsliriegel! Kiwis! Zwei Wecker stellen!) und schon ist der erste Tag fast vorbei.
Morgens in der Schlange scheint alles Business as usual. Die Kinder begrüßen andere Berlinalegänger, es wird diskutiert, organisiert, ausgewählt. Unter allem liegt so eine leise Aufregung, die Leute sind früh aufgestanden und das Koffein des ersten Kaffees bahnt sich erst jetzt den Weg durch den Blutkreislauf. 6 Uhr 54 erschiele ich auf der Uhr meines Schlangennachbarn und freue mich wahnsinnig auf den Moment, wenn der ganze Trubel verschwindet, die Lichter ausgehen und es endlich nur noch um eins geht: Filme schauen.
Der Moment kommt schneller als gedacht und zack habe ich drei neue Filme im Gepäck, stehe auf dem Potsdamer Platz und bin noch zu überwältigt um irgendetwas zu sagen, außer dass mein Magen knurrt und der Wind echt ganz schön kalt ist.
Ich beobachte wie sich an der Ecke des Cinemaxx eine Gruppe Menschen am Zaun sammelt. Auf wen da wohl gewartet wird? Die Wachleute in Neonwesten geben sich zumindest Mühe ihr amüsiertes Lächeln zu verbergen und professionell auszusehen.
Ich wandere noch ein bisschen zwischen den Menschen herum und knabbere an einem Müsliriegel (Danke, Sven!). Die Worte kommen dann ganz von selbst:
Hey, ich bin Karen, die neue Autorin bei den Kindern, und ich freue mich auf eine fantastische, wilde, kalte, hungrige, zärtliche, aufregende Berlinale mit euch!

Von Hirschen und Menschen – Teströl és lélekröl (On Body and Soul)

Ein in mattes Weiß getauchter Wald, vereinzelt an den Stämmen herunterrieselnder Schnee, der von einer kleinen Brise erfasst wird, bevor er sich legt. Durch die Stille stapft ein Paar, er voraus, mit wachsamem Blick die Umgebung untersuchend, während sie hinter ihm zögert, stehen bleibt. Gemächlich kommt er zurück zu ihr, legt seinen Kopf über ihre Schulter, beruhigt sie, bis sie nach einigen Momenten weitergehen kann. Bei dem Paar handelt es sich um einen Hirsch und ein Reh, deren Wanderung durch die Wildnis den Rahmen von Ildikó Enyedis teils behutsamer, teils meditativer Liebesgeschichte Testről és lélekről (On Body and Soul) bildet. weiterlesen →