„Oh Gott, bitte keine Festivalfilme mehr!“ So oder so ähnlich hört man mich gen Ende der Berlinale jeden Tag in der Schlange aufstöhnen, wenn mir die tiefsinnigen, oft etwas schwerfälligen und im Festivalprogramm dominierenden Dramen zum Hals raushängen. Woo Sang von Li Su-jin versprach mir da eine willkommene Abwechslung – ein koreanischer Thriller, das wird bestimmt cool! Aber 140 Minuten lang? Egal, einen Versuch ist es wert. 20 Uhr im Zoopalast, Weltpremiere, die Filmcrew ist da und hat sich rausgeputzt. Kurz Applaus, „Gute Projektion“ und los gehts.
Aus dem Off ertönt der erste Satz des Films „Ich habe meinem Sohn einen runtergeholt, seit er 13 war.“ Nach ein paar weiteren Minuten ist mir und meinen Sitznachbarn klar: wenn der Film dieses Tempo hält, haben wir einen wilden Ritt vor uns.
Als der Gouverneurskandidat Koo (Han Seok-kyu) von einer Reise zurückkommt und in der Garage eine Leiche vorfindet, verlässt er den Pfad der Rechtschaffenheit, mit folgenschweren Konsequenzen. Sein Sohn hat den jungen Mann Bu-nam überfahren und panisch nach Hause anstatt ins Krankenhaus gebracht. Koo veranlasst, dass sein Sohn sich stellt, allerdings deponiert er die Leiche wieder am Straßenrand, um die Schwere des Vergehens abzumildern (Fahrerflucht ohne Vertuschungsversuch). Während Koo anschließend bemüht ist, den Skandal einzudämmen, macht sich der Vater Vater des Toten (Sul Kyung-gu) auf die Suche nach der Wahrheit und nach Bu-nams verschwundener Verlobten, der illegalen Einwanderin Ryeon-hwa (Chun Woo-hee). Um alle Spuren zu verwischen, heftet sich allerdings auch Koo, den der steigende Druck in die Rücksichtslosigkeit treibt, an deren Versen.
Das klingt jetzt recht verworren. Ist es auch, und das muss man dem Film leider negativ ankreiden: Über das erste Drittel hinaus ist die Handlung wirr erzählt und nur schwer verständlich. Für einen Noir-Thriller mag das teilweise angebracht sein, allerdings übertreibt es Woo Sang ein bisschen, zumal ich die ganzen Nebenstränge hier gar nicht erwähnt habe. Wenn man kein Ohr dafür hat, wann koreanisch und wann chinesisch gesprochen wird, erschließt sich auch die Herkunft und Motivation von gewissen Charakteren nicht, was für zusätzliche Verwirrung sorgen kann. Man merkt Li Su-jin an, dass Woo Sang erst sein zweiter Langspielfilm ist, in der Stringenz und Klarheit der Erzählstruktur ist da noch Luft nach oben.
Diese Schwäche macht der Film aber durch seine fantastische Inszenierung und den (sobald man durchblickt) packenden, mit unvorhersehbaren Wendungen gespickten Plot wieder wett. Absolut schonungslos entspinnt sich dieser und Woo Sang schreckt dabei weder vor moralischen Tiefen noch vor radikalen Gewaltdarstellungen zurück. So entwickelt er einen wahnsinnigen Sog, der in seiner Intensität nie nachlässt, und bleibt zugleich stets unberechenbar: der Film hat quasi drei dritte Akte, wobei jeder folgende immer weiter einen draufsetzt, bis die Situation letztendlich komplett eskaliert. Das mag manch einem sauer aufstoßen, mich hat es enorm gefesselt und bestens unterhalten. Trotz der langen Spielzeit hält Woo Sang das Publikum durchgehend in Atem, inszenatorisch haut er dazu ordentlich auf die Kacke und servierte mir einige der schockierendsten Momente des Festivals.
Alles in allem ein extrem spannender, wenn auch etwas wirrer Thriller, der trotz seiner Schwächen eines meiner Highlights (endlich was mit Zug!) ist und den Regisseur Li Su-jin definitiv auf meinem Radar platziert hat.
Bildmaterial: Berlinale Filmstills; Panorama
Woo Sang
Regie: Li Su-jin
Länge: 140'
Mit:
Poduktion: Südkorea 2019
Kategorie: Panorama