Puhh, geschafft: Die Berlinale ist vorbei und ich muss sagen – es war höchste Zeit. Die Kräfte sind aufgebraucht. Wir haben unser Bestes gegeben und doch sind, wie jedes Jahr einige Filmperlen unverdienterweise auf der Strecke geblieben. Bevor wir nach einer kleinen Verschnaufpause nocheinmal gemeinsam zurückschauen auf diese 69. Filmfestspiele, ihre Höhe- und Tiefpunkte, will ich versuchen, da noch ein bisschen was gutzumachen und diesen Artikel jenen Filmen widmen, die trotz ihrer Qualitäten bisher keine eigene Kritik bekommen haben.
Oray – von Mehmet A. Büyükatalay
Ein junger Muslim (Zejhun Demirov) hat im Gefängnis zum Glauben gefunden. Seine Ehe kriselt, obwohl er seine säkular eingestellte Frau (Deniz Orta) offensichtlich sehr liebt. Im Streit spricht er dreimal die islamische Scheidungsformel aus und muss nun für drei Monate getrennt leben. Als er eine zweite Meinung einholt, stellt sich heraus: Die strengere Rechtsauslegung fordert eine endgültige Trennung – seine Frau wäre für alle Zukunft unberührbar. Nun muss sich Oray zwischen Glauben und Liebe entscheiden… Die schnörkellose Inszenierung dieses und das sorgfältig austarierte Drehbuch (obwohl vom Regisseur selbst geschrieben) machen aus dieser Geschichte eine feinfühlige und differenzierte Erkundung der Lebenswelt und -einstellung eines jungen Menschen am Rande der Mehrheitsgesellschaft, für den die Religion und ihre Gemeinschaft zur Rettung aus der Drogenkriminalität – und der Marginalisierung – wird, der dafür aber den Preis der Kompromisslosigkeit zahlt. Die großartigen Darsteller tun das übrige für ein Portrait voller Schattierungen. Nun hat dieses Debüt aus der Perspektive deutsches Kino erfreulicherweise und sehr verdient den GWFF-Preis für den besten Erstlingsfilm bekommen.
Sektion: Perspektive deutsches Kino
Regie und Buch: von Mehmet Akif Büyükatalay
Mit: Zejhun Demirov, Deniz Orta, Cem Göktaş, Faris Yüzbaşıoğlu, Mikael Bajrami
Produktion: Deutschland 2019
Länge: 100'
Dafne – von Federico Bondi
Wiederum ein Portrait, aber aus Italien und ganz anders ausgerichtet: Der Film folgt der titelgebenden Dafne (Carolina Raspanti), einer jungen Frau mit Down-Syndrom, die noch bei ihren Eltern lebt, ansonsten aber ausgenommen selbstständig und lebensklug daherkommt. Wir lernen sie kennen, als aus heiterem Himmel ihre Mutter stirbt. Während ihr Vater (Antonio Piovanelli) beinahe daran zerbricht und in Lethargie verfällt, lässt Dafnes Lebenslust sie schneller über ihre Trauer hinwegkommen. Nach anfänglichen Reibungen beginnt sie, sich um ihren Vater zu kümmern und bewegt ihn schließlich zu einer gemeinsamen Wanderung zum Grab der Mutter, um den Kopf frei zu bekommen… Ein hoffnungsvoller Film, der Tragik und Komik elegant miteinander verschränkt, tief berührt, aber jeden Kitsch vermeidet und nicht zuletzt durch seine umwerfende Hauptdarstellerin getragen wird. Bravissimo! Hat völlig zu Recht den Kritikerpreis im Panorama erhalten.
Sektion: Panorama
Regie und Buch: Federico Bondi
Mit: Carolina Raspanti, Antonio Piovanelli, Stefania Casini
Produktion: Italien 2019
Länge: 94’
Dreissig – von Simona Kostova
Wie alle Leser*innen und Zuschauer*innen dieses Blogs wissen dürften: Wir hassen ja eigentlich sogenannte ‚Berlin-Filme‘ – dieses von uns so betitelte Genre reproduziert einfach völlig ungebrochen jegliche Berlin-Klischees, verherrlicht sie bis zum Gehtnichtmehr und wirkt insgesamt wie ein einziger Trailer zum Lolapalooza-Festival. (Ein typischer Vertreter auf dieser Berlinale war Heute oder morgen, der aus gutem Grund keine Kritik bekommen hat – wer einen Eindruck bekommen möchte, der lese einfach den Programmtext. easy love wiederum war quasi ein Berlin-Film, der nicht in Berlin gespielt hat). Vor diesem Hintergrund könnte man meinen, dass Dreissig eine einzige Folter für uns war: Es geht um 5 Freunde um die 30, alle sind grad irgendwie auf der Suche, im Übergang, einer hat Geburtstag und nun soll gefeiert werden.
Was bis hierhin wie ein typischer Berlin-Film klingt, mausert sich jedoch zum regelrechten Anti-Berlinfilm, indem er das ungebunden-hippe Hauptstadt-Leben der Figuren nicht abfeiert, sondern das Scheitern, die Einsamkeit und Verlorenheit dieser Gestalten einfängt. Das tut er mit ewig langen Einstellungen, die doch (fast) nie langweilig werden, mit verblüffend ‚echt‘ wirkenden Dialogen (Sven und ich haben uns gefühlt wie bei einem unsrer Küchengespräche) und einer mitunter sehr intelligenten Kameraführung und Bildgestaltung, die die Orientierungslosigkeit und Verzweiflung hinter munteren Oberfläche der Charaktere zum Vorschein bringt. Auch wenn es das Drehbuch leider nicht ganz schafft, die einzelnen starken Szenen aufeinander aufbauen zu lassen und so das Ende nicht ganz aufgeht, gehört die dffb-Produktion doch zu den interessantesten Vertretern der Perspektive deutsches Kino – und verdient eine Würdigung schon allein dafür, scheinbar ‚hippe‘ Berliner Lebenswelten zu inszenieren, ohne zum ‚Berlin-Film‘ zu werden.
Sektion: Perspektive deutsches Kino
Regie und Buch: Simona Kostova
Mit: Övünç Güvenişik, Pascal Houdus, Kara Schröder, Raha Emami Khansari, Henner Borchers
Produktion: Deutschland 2019
Länge: 114’
Damit ist zwar die Liste übriggebliebener Filme noch lange nicht ausgeschöpft, aber ich bin erschöpft – und somit wollen wir es dabei belassen. Das Wichtigste ist gesagt und geschrieben. Das Fundament für die Nachlese und Rückschau steht. In ein paar Tagen melden wir uns dazu nochmal per Video, um das diesjährige Berlinale-Kapitel dann endgültig abzuschließen. Hier schonmal besten Dank an euch alle, die regelmäßig unseren Blog gelesen, unsere Videos geschaut, unsere Gedanken verfolgt haben. Ich freu mich aufs nächste Jahr!
Bildmaterial: Berlinale Filmstills; Perspektive deutsches Kino / Panorama