Von den 246 Langfilmen, die auf dieser Berlinale laufen, kommen etwa 60 (zumindest als Koproduktionen) aus Deutschland, um die 30 aus Frankreich, und aus Argentinien immerhin 7. Aus Dänemark kommen zwei – und einer davon ist ein Animationsfilm. Das ist enttäuschend wenig für jemand, der immer auf skandinavisches Kino geiert, zumal Filme aus Schweden, Norwegen und Finnland im diesjährigen Programm ebenso spärlich gesät sind. Mit dementsprechend ängstlicher Erwartungshaltung ging ich also in den einzigen für mich verbliebenen dänischen Film – was, wenn der jetzt nicht gut wäre? Die Sorgen waren unbegründet: Kød & Blod, der erste Langfilm von Jeanette Nordahl, ist ziemlich gut geworden.
Worum geht’s? Nachdem die Mutter der 17-jährigen Ida (Sandra Guldberg Kampp) bei einem Autounfall gestorben ist, kommt das Mädchen zur Familie ihrer Tante Bodil (Sidse Babett Knudsen), zu der sie lange Zeit keinen Kontakt mehr hatte. Diese Familie ist eine feste Größe in der ländlichen Unterwelt, und Idas drei ältere Cousins fungieren als Schuldeneintreiber des von Bodil angeführten Clans. Bald wird auch Ida mit auf die Erpresserfahrten genommen und in die kriminellen Machenschaften der Familie verstrickt. Dabei muss sie die Geborgenheit in der neuen Familie und die Gewalt und Gefahr, der sie sich dafür aussetzen muss, gegeneinander aufwiegen.
Und während Ida das tut, steht auch das Publikum zwischen den Stühlen. Denn innerhalb der Familie sind Liebe und Gewalt stets miteinander verschränkt. Bodil ist fürsorglich, liebevoll und aufmerksam – fordert aber zugleich uneingeschränkte Liebe ein und lässt jede*n, der oder die nicht ihr Fleisch und Blut (daher also der Titel!) ist, unmissverständlich spüren, dass sie nicht dazugehören. Und während Jonas (Joachim Fjelstrup), der älteste der Brüder, Ida bereitwillig und verständnisvoll aufnimmt, verteilt er selbst in fröhlichen Momenten regelmäßige Ohrfeigen gegen seinen nur etwas jüngeren Bruder David (Elliott Crosset Hove). David ist das von der Familie auserkorene „Schwarze Schaf“, und gegen ihn und seine Freundin Anna richtet sich ein Großteil der impliziten und expliziten Gewalt in diesem dysfunktionalen Beziehungsgeflecht. Doch auch im Verhältnis zu ihm bleibt Kød & Blod stets in der Schwebe zwischen Mitleid, Abstoßung und Angstspannung.
Im Durchexerzieren und Verhandeln dieser moralischen wie emotionalen Ambivalenz entfaltet Jeanette Nordahl eine vielschichtige und trotz ihrer Zurückgenommenheit packende Beziehungsstudie, die gekonnt einträchtiges Familienglück in bedrückende Toxizität hineinwebt und einige schockierende Überraschungen bereithält. Dabei kann sie sich erstens auf ein ungemein nuanciertes Drehbuch (von Ingeborg Topsøe) stützen, das sich immer wieder darauf besinnt, Andeutungen und körperliche Grenzüberschreitungen über explizite Worte zu stellen. Zweitens tragen die ausgezeichneten Schauspieler*innen die subtilen Verschiebungen zwischen ihren Charakteren – gerade die beiden zentralen Darstellerinnen: Knudsen verbindet Giftigkeit und Liebenswürdigkeit in ihrer Matriarchin auf bravouröse Weise, und die Mikro-Reaktionen im Gesicht Sandra Guldberg Kampps hätte ich mir gerne länger angesehen. Da stört es auch kaum, dass ein paar Figuren von dem Gesamt-Geflecht der Familie überschattet bzw. geschluckt werden – zu einem Film über eine invasive, in wechselseitiger Abhängigkeit zueinanderstehende Familie ist das ja auch ganz passend. Jetzt habe ich fast Lust, nur noch dänische Filme auf dieser Berlinale – oh.
Sven
Sektion: Panorama Dänemark 2020 Regie: Jeanette Nordahl Buch: Ingeborg Topsøe Mit: Sandra Guldberg Kampp, Sidse Babett Knudsen, Joachim Fjelstrup, Elliott Crosset Hove, Besir Zeciri Länge: 88’
Bildmaterial: Berlinale Filmstills: Panorama