Der guatemalische Regisseur Jayro Bustamante kehrt nach vier Jahren zurück zur Berlinale. Während sein Debütfilm Ixcanul im Wettbewerb gelaufen ist, erscheint sein zweiter Langspielfilm Temblores im Panorama. Bustamantes Herangehensweise hat sich dabei nicht geändert: Wie auch Ixcanul ist Temblores zu einem Teil beobachtende Gesellschaftsbeschreibung und zu einem Teil persönliches Drama über eine Figur, die von den gesellschaftlichen Zwängen an der Selbstentfaltung gehindert wird. Im Vergleich mit seinem Debütfilm erlaubt Bustamante sich hier jedoch, deutlich klarer Kritik an den gesellschaftlichen Umständen zu formulieren und sie in ihren eigenen Widersprüchen zu verwickeln. Dabei bleibt sein Blick nüchtern und zurückgenommen und lässt vielmehr die Figuren und ihre Emotionen sprechen, als diese offensiv zu inszenieren. Genau die richtige Entscheidung.
Pablo (Juan Pablo Olyslager) ist ein recht erfolgreicher Buchhalter Mitte 40 mit schöner Gattin, zwei Kindern und großer, ihn liebender Familie – und einem Liebhaber, für den er in die Stadt ziehen will. Für die erzchristliche Familie kommt das einer Gottesstrafe gleich, und so muss Pablo sich gegen Eltern, Geschwister, Ehefrau und Kirche behaupten, die ihn allesamt von seiner Homosexualität „heilen“ wollen und bereit sind, ihm, wenn er nicht einwilligt, die Kinder wegzunehmen. Pablos Ringen um Akzeptanz und sein Zwiespalt zwischen Loyalität zur eigenen Familie und der Liebe zu Francisco (Mauricio Armas Zebadúa) sowie der einhergehenden Sinnkrise ob seines ‚sündhaften‘ Verhaltens bilden das Zentrum des Filmes. Dieser Druck bricht aber nicht aus ihm heraus. Die titelgebenden Beben (Temblores), die sich im Film mehrfach ereignen, verweisen auf das Brodeln unter der Oberfläche der Charaktere, das sich ebenfalls nur in kurzen Beben Platz verschafft.
Bustamante inszeniert seine Geschichte mit auffälliger Kaltschnäuzigkeit: An keiner Stelle ist hier mit emotionalen Schreien oder gar effekthascherischer Musik zu rechnen, die uns die Gravitas und Tragik von Pablos Zerrissenheit näherbringen. Stattdessen passt Temblores seine künstlerische Restriktion an die Stoik seiner Charaktere an und wirft diese aufs Publikum zurück. Das heißt nicht, dass der Film keine Position bezieht. Diese entwickelt er jedoch eher aus den Charakteren und ihren Handlungen, als dass sie aus der Inszenierung herausschreien: Pablos Frau Rita (Schauspielerin) macht zusammen mit dessen Mutter und der Frau des Pastors in einem Kirchenkurs Beckenboden-Übungen, um die sexuellen Begierden der Männer besser befriedigen zu können. Die Kinder fragen sich, ob die Krankheit ihres Vaters wohl tödlich sei und ob er sie an sie weitervererbt habe. Und Pablo verliert seinen Job als seine Homosexualität auffliegt und findet nur noch bei – genau – der Kirche eine Anstellung. Der systemische Chauvinismus des gehobenen Bürgertums wird in direkten Bezug zur ständigen Selbstkontrolle aller Beteiligten gestellt und als Wurzel ihres Leides ausgemacht – ohne mit erhobenem Zeigefinger laut zu brüllen, wie schlimm das doch alles sei. Die nervöse Unterdrückung von Emotion, die sich auch im zwanghaft zurückgenommenen Spiel der Darstellenden spiegelt, und die punktuelle Entladung dieser Energie in geradezu hysterischen Gebeten erhält erst im Zusammenspiel mit dem trockenen Zugriff Bustamantes seine absurden, gewaltvollen und unausweichlichen Züge. Pablos Liebhaber Francisco steht dabei scheinbar außerhalb des Systems und verspricht ein alternatives Leben – doch auch er kann sich der alteingesessenen Kraft der Tradition nicht entgegenstellen.
Auf diese Weise gelingt Bustamante eine eindringliche Kritik an der guatemalischen Gesellschaft. Die große Stärke des Films liegt jedoch in seiner Tragik. In den leisen Momenten, in denen der Schmerz an diesem Scheitern vor einer Übermacht sich fast unbemerkt bahnbricht, schwingt Temblores sich in all seiner Nüchternheit zu einem der berührendsten Filme des Festivals auf. Der Schmerz, der bei dem Wiedersehen der beiden Geliebten im Gottesdienst durch beider Gesichter und Körper huscht, bereitet mir auch im Nachhinein noch Gänsehaut. Und die letzte Einstellung schafft es doch tatsächlich, zugleich Hoffnung für eine mögliche Zukunft zu schenken und mit einem Blick direkt ins Herz zu schießen.
Es ist bezeichnend, dass ich gegen Ende dieser Kritik nicht umhin kann, in genau die Melodramatik zu verfallen, die der Film doch so gekonnt umschifft. Zu sehr hat er mich gerade zum Schluss bewegt, und zu begeistert bin ich aus dem Kino gegangen. Schaut euch Temblores an!
Sven
Temblores Sektion: Panorama Länge: 107‘ Regie: Jayro Bustamante mit Juan Pablo Olyslager, Diane Bathen, Mauricio Armas Zebadúa, María Telón, Sabrina de La Hoz Produktion: Guatemala / Frankreich / Luxemburg 2019