Pokot (Spoor) – Ob das Absicht war?

Wer nur die ersten Minuten des neuen Films der preisgekrönten Regisseurin Agnieszka Holland sieht, der stellt sich wohl auf ein ernstes, tiefgehendes Drama oder Monumentalwerk mit opulenten Landschaftsbildern ein. Wer die folgenden zwei Stunden aber auch noch mitbekommt, der wird entweder stinksauer sein und diesen Film verreißen, oder etwas dümmlich vor sich hin kichernd den Kinosaal verlassen, um sich über die absurde und komplett aus dem Ruder gelaufene Reise, die er/sie gerade mitgemacht hat, die Augen zu reiben. Diese Kritik tut letzteres, auch wenn die gegenteilige Meinung zu Pokot komplett nachvollziehbar ist.

Kurz zum Einstieg: ausschweifende, vor Eleganz strotzende Aufnahmen einer schneebedeckten Landschaft, im Hintergrund langsame, aber druckvolle, tiefe Streicher, immer wieder gesellt sich ein vereinzelter Trommelschlag hinzu; durch die Weiten fahren einige Geländewagen durch die aufziehende Dunkelheit, der Silberne Bär für Künstlerische Leistung (Kamera) liegt in der Luft. Cut, Auftritt Duszejko (Agnieszka Mandat), esoterische, gutmütige Dame, die in der polnischen Pampa bei einer Kleinstadt ihren Ruhestand als Leiterin eines Englischkurses, autodidakte Astrologie-Expertin und helfende Hand für jedermann verbringt. Für jedermann und jedes Tier, um genau zu sein, denn die Aushilfslehrerin ist ausgesprochene Tierfreundin und kommt dementsprechend gar nicht klar mit der sadistischen und rücksichtslosen Art, in der ihre (männlichen) schießwütigen Dorfgenossen alles was Fell hat, durch den Wald hetzen und abschlachten. Als einige der Wilderer gewaltsam zu Tode kommen, nimmt Duszejko mit ihren ungleichen Freunden eigene Ermittlungen auf.

Das Ganze ist zwar wie ein Märchen angelegt und tatsächlich wirkt Mandats Figur teilweise wie eine Kräuterhexe, aber nichtsdestotrotz ist es erst einmal reichlich bescheuert und passt so gar nicht zu dem erhabenen Ton, der im Intro gesetzt wurde – und auch das bricht Pokot sofort wieder, denn er ist keine Komödie, sondern eine Mischung aus Thriller, Krimi, Drama und sogar Soap und Kinderfilm? Ich bin mir nicht sicher, denn nach dem ersten Akt lösen sich die Genres im Minutentakt ab und steigern sich dabei bis ins Äußerste. Nein, Subtil ist dieser Film ganz und gar nicht, dramatischste Streicher untermalen die Fahrt Duszejkos in die Stadt (allgemein wird sehr viel zu tosenden Klangwellen einfach durch die Gegend gefahren), die gute Frau bekommt zahllose Tobsuchtsanfälle auf der Polizeiwache und „Visionen“ (?) zeigen die Vergangenheit der Nebencharaktere, dazwischen eine von Maden zerfressene Leiche und nicht eine, sondern drei Liebesgeschichten (zwei davon mit Dreieck).

Da diese Breitseite an Over-the-Top Sequenzen aber nie ironisch gebrochen wird, sondern Holland ihrem Chaos einfach treu bleibt und sich sogar noch tiefer hineinreitet, wird das Publikum vor die Wahl gestellt: Beschwere ich mich über die Maßlosigkeit, der hier sämtlicher dramaturgischer und inszenatorischer Feinschliff zum Fraß vorgeworfen wird, oder sage ich „Fuck it, dann kann der Informatik-Boy eben nicht nur die Straßenlaternen, sondern auch Autolichter und Taschenlampen ausgehen lassen!“ Klar ist, dass man nur, wenn man sich auf diese Weise auf ihn einlässt und ihn für seine unerschrockene Simplizität wertschätzt, wirklich Spaß mit Pokot hat, dann aber eine ganze Menge. Um meinen Sitznachbar zu zitieren: „Oh Mann, ich liebe diesen Film!“

Bleibt noch die im Titel gestellte Frage, ob dies wohl so im Sinne der Regisseurin war. Auch wenn ich aufgrund der Erfahrung und des Talentes, das Agnieszka Holland hat und auch hier immer wieder klar ausstellt, der Meinung bin, das kann nicht unfreiwillig sein (und die Entscheidung, es nicht explizit als „gar nicht so gemeint“ zu markieren, sehr mutig und lobenswert finde), spielt das gar keine Rolle dafür, dass Pokot zweifellos Kritik wie Publikum spalten wird. Auf die eine oder andere Weise wird man im Kino allerdings ins Schwitzen kommen, soviel sei versprochen.

Sven

Bildmaterial: Berlinale Filmstills, Sektion: Wettbewerb

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