Ich weiß nicht mehr, was mich dazu gebracht hat No intenso Agora, João Moreira Salles‘ Dokumentation über die 68er in Frankreich und der Tschechoslowakei, zu sehen – aber ich bin sehr froh, es getan zu haben. Nicht, weil er besonders innovativ gestaltet wäre, sondern, weil er ein nicht nur informativer, sondern durch und durch kulturwissenschaftlicher Filmessay ist und damit Balsam für meine Seele.
Nach fünf Minuten ist die Methodologie des Filmemachers bereits ausgearbeitet; aus einer Amateuraufnahme eines laufenden Kindes leitet Salles das Klassensystem Brasiliens in den 60ern ab, indem er deren Ränder betrachtet und das Kindermädchen, das sich wie selbstverständlich dorthin zurückzieht, als das Kleinkind seine ersten Schritte macht. Den Bildern, so wird klar, wohnt deutlich mehr Information inne als das, was die Filmenden intendiert haben, und das lässt sich aus ihnen herausschälen und sichtbar machen.
Auf die gleiche Weise nähert er sich anschließend mit ruhiger Stimme über sowohl öffentliches, als auch privates Filmmaterial den Studenten- und Arbeiterprotesten in Frankreich im Mai 68, sowie dem Prager Frühling und erweitert die Narration beider Bewegungen um einige Akteur_innen, die eben nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit standen. Zugleich widmet er sich auch deren offiziellen Hauptfiguren wie Daniel Cohn-Bendit aus dem Pariser Mai, liest deren Geschichte jedoch gegen den Strich und fügt ihr Details hinzu, die auf den ersten Blick nicht wichtig scheinen (wie die Finanzierung der Berlin-Reise Cohn-Bendits durch die Boulevardzeitung Paris Match), aus denen Salles jedoch wichtige Erkenntnisse herausarbeitet (wie in diesem Fall die Transformation des politischen Protestes in eine Ware).
An die historischen Beobachtungen schließen sich systematische Überlegungen über die Möglichkeit und die Bedingungen politischen Umschwunges an; Salles macht in Paris wie in Prag die Artikulation eines (frei nach Ranciere) Unvernehmens aus, eines „So geht’s nicht weiter, wir haben gar nichts zu melden, das muss sich ändern!“ und verfolgt, wann, wie und warum sich diese revolutionäre Energie wieder verflüchtigt. Parallel dazu zeigt er Aufnahmen der China-Reise seiner Mutter 1964 und berichtet von ihrem Entzücken und Staunen über die ihr völlig fremde Kultur und Lebensweise, der sie hier begegnet ist. Auch wenn dieser Part der analytisch Schwächste des allgemein sehr scharfsinnigen Filmes ist, fügt er ihm nicht nur eine persönliche Note hinzu, sondern findet darin auch den Ansatz einer Antwort auf die Frage nach Veränderung; diese benötige die Erfahrung etwas radikal Anderen, um zu zeigen, dass es auch anders gehen kann.
Während das keine unbedingt neue Erkenntnis ist, kann No intenso Agora doch mehr als überzeugen, was allerdings weniger am etwas monotonen Erzählstil des Regisseurs liegt, sondern eher an den Bildern, die er präsentiert und wie er mit diesen umgeht. Die unentwegte Rückkopplung seiner Gedanken an gezeigtes Filmmaterial erden diese Dokumentation und machen die teilweise komplexe Erzählung leicht zugänglich, weswegen ich No intenso Agora nicht nur angehenden Kulturwissenschaftler_innen, sondern jeder/m empfehlen kann.
Sven
Bildmaterial: Berlinale Filmstillls, Sektion: Panorama