Los miembros de la familia – ungewöhnlicher Coming-of-Age-Film, der alles richtig macht

Ein junger Mann und eine junge Frau kommen zurück in ein Haus an der argentinischen Küste. Sie kennen dieses Haus, sie fühlen sich unwohl hier und sie sind scheinbar Geschwister: Lu und Gilda. Zwischen beiden herrscht von Anfang an eine diffuse Anspannung – Lu begegnet seiner Schwester beinahe feindselig, aber mit stoischem Gesicht – deren Hintergründe sich nur nach und nach und auch bloß andeutungsweise offenbaren.

Die Mutter der beiden ist offenbar kürzlich verstorben, denn sie sollen ihrem Wunsch gemäß hier ihre Überreste dem Meer übergeben (die nur aus einer Handprothese bestehen – der eigentliche Körper sei noch nicht freigegeben). Die Umstände des Todes werden nie erklärt, aber die Hinweise verdichten sich, dass es Suizid war, und zwar in diesem Haus. Die beiden Geschwister wollen bloß ‚die Bestattung‘ hinter sich bringen und direkt wieder abreisen, zurück nach Buenos Aires, weniger in Erwartung des dortigen, als vielmehr aus Abscheu vor diesem Ort und diesem Haus. Das Problem: Ein Streik der Fernbusfahrer kommt ihnen in die Quere und so sitzen sie auf unbestimmte Zeit fest.

So sind die beiden auf sich selbst, den Ort und das, wofür er stehen mag, zurückgeworfen. Aus diesem Material macht der Film dank seiner herausragenden Darsteller und präzisen Inszenierung eine ungewöhnliche Geschichte vom Erwachsenwerden. So wird der jüngere, verschlossene Lu – grandios minimalistisch gespielt von Tomás Wicz – gezwungen, über seinen Frust und seine Trauer hinauszugehen, sich der Vergangenheit zu stellen und schließlich sich selbst zu akzeptieren. In der Konfrontation mit sich und dem Meer findet eine langsame Öffnung dem Leben gegenüber und eine Wiederannäherung der Geschwister statt. Dabei vermeidet Los miembros de la familia jeden Kitsch oder Pathos und verlässt sich in seiner Inszenierung auf einen nüchternen Blick und viel Fingerspitzengefühl.

Die Ausgangssituation des Films beschrieb eine Zuschauerin im Nachgespräch recht treffend als „postapokalyptisch“ – voller trübem Licht und Fatalismus. Dass man von der düsteren Grundstimmung nicht erdrückt wird, liegt an dem trockenen, leisen Humor und den scheinbar absurden, surrealen Elementen, die immer wieder unkommentiert auftauchen (die hier aber unerwähnt bleiben sollen, um die Überraschung nicht zu verderben). Streckenweise wird es sogar richtig witzig. Etwa als Lu beim Joggen einen anderen jungen Mann kennenlernt und sich todernsten Gesichtes mit ihm über Fitness-Routinen und Ernährungsprogramme unterhält. Klingt auf dem Papier nicht halb so lustig wie im Film, merk ich grad – ein Grund mehr, ihn euch selbst anzuschauen!

Zu Beginn von Family members wissen wir fast nichts, und der Film lässt sich viel Zeit, den einen oder anderen Hinweis darauf zu geben, was das für eine Vergangenheit ist, die beide so gern hinter sich lassen wollen. Bis zum Schluss bleibt vieles offen. Es sei am Publikum, die Lücken zu füllen, anhand seiner eigenen Erfahrungen den Film zu komplementieren – so der Regisseur Mateo Bendesky im Nachgespräch. Gerade diese Zurückhaltung des Films, sein Vertrauen in die Phantasie und Einfühlsamkeit des Publikums, die Zeit, die er sich lässt – mit Einstellungen wie mit Aufklärungen –, machen seine große Stärke aus.

Jetzt schon einer meiner Favoriten der diesjährigen Festspiele (und meine Hoffnung für den Publikumspreis).

Los miembros de la familia / Family members
Sektion: Panorama
Regie: Mateo Bendesky
Mit: Tomás Wicz, Laila Maltz, Alejandro Russek
Produktion: Argentinien 2019
Länge: 86'

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.