Was? Nein, wirklich jetzt. Was? Der erste Laut, den meine Stimmapparatur am Ende des Filmes von sich gab. Was war hier los? Was war eigentlich der Plot? Was wollte Headbang Lullaby mir sagen? Mein Kopf fühlte sich an wie eine große, schwammige Suppe Wirrwarr. Nur eine Sache war mir klar: so viel Spaß hatte ich im Kino lange nicht mehr gehabt!
Dementsprechend wird es mir bestimmt nicht einfach fallen, aus dem Ganzen eine strukturierte Kritik zu basteln. Aber versuchen wollen wir es trotzdem, auf geht’s!
Laute, marokkanische Rockmusik dröhnt durch die Lautsprecher des Kinos. Wir befinden uns im Zentrum einer Demonstration. In Slow-Motion Nahaufnahmen sehen wir Molotov Cocktails, schreiende Menschen, Plakate, geballte Fäuste und überall Rauch. Die Lage ist ernst inmitten der Lebensmittelunruhen in Marokko um 1984. Dann schaltet die Kamera um, wir sehen eine Gruppe Polizisten, eng zusammen gerückt wie eine römische Legion, die von Steinen beworfen wird. In der Mitte der Meute steht Daoud, der, ganz ungeachtet dessen, seinen Kollegen nach einer Banane fragt. Als er keine Antwort bekommt, drängt er weiter und will sogar wissen, wo man in der Gegend eine kaufen kann. Genervt schupsen seine Kollegen ihn immer weiter nach hinten. Hinter der Gruppe angelangt, hört er eine tickende Uhr und wird schließlich von einer wie zufällig anrauschenden Glasflasche am Kopf getroffen – Ende der Einführung.
Dann: eine Tennisszene.
Dann: eine Decke, ein rot-gelb beleuchteter Raum. Detailaufnahmen, während im Hintergrund der Kommentar eines Fußballspiels ertönt. Wir sehen Daoud vorm Fernseher sitzend, komplett verkleidet in der Uniform der marokkanischen Fußballnationalmannschaft. Es ist 1986 und Marokko kurz davor, Fußball-Geschichte zu schreiben. Er ist fixiert auf die Partie, bis er von seiner Frau unterbrochen wird: “Du magst doch gar kein Fußball!” Er stimmt ihr zu, und fragt dann nach seinem Abendessen…
…wir hören hier mal auf, denn ich ertappe mich grade dabei, den ganzen Film nacherzählen zu wollen. Jede Szene ist so genial und absurd, so farbenfroh und unkonventionell gefilmt, dass man gleich alles erwähnen will. Aber gut, machen wir also einen Sprung: Daoud wird damit beauftragt, eine Brücke zwischen zwei Gemeinden zu bewachen (“Keine Lust, wieso ich?” – “Es ist dein Job.”), da der König am kommenden Tag die Brücke passieren wird.
Was wir danach sehen, ist eine Aneinanderreihung von absurden Charakteren und noch absurderen Situationen. Nehmen wir mal die Brücke zum Beispiel (wo sich der Hauptteil des Filmes abspielt): Diese scheint mitten im Niemandsland zu stehen und führt über eine Autobahn. Doch dann lernen wir, dass sich auf der einen Seite der Ort Cocca befindet, wo man Co(c)ca-Cola trinkt und auf der anderen Pepsi, nein, sorry, Bipsi, wo es nur Pepsi-Cola gibt. Treffen einen alten Mann zu Pferde, der beim Überqueren der Brücke Daoud ein Paar Münzen hinwirft (Daoud pfeift in diesen Moment in eine leere Flasche, für den Greis ist er also ein Bettler). Beim zweiten Mal ist seine Entourage im Schlepptau und Daoud wird von einer Barrage von Münzen getroffen. Bei der dritten Überquerung stirbt der Alte plötzlich und unerwartet. Oder die junge Frau im traditionellen Gewand, die beim Passieren eben diesen auszieht und dann in Klamotten weiter läuft, die so bunt sind, dass sie selbst heutzutage Blicke auf sich ziehen würde. Sie scheint dem modernen, anti-konventionellen Teil der Gesellschaft anzugehören, belehrt Daoud aber trotzdem, als dieser nicht die Klappe halten will, während das Gebetslied läuft.
Abseits dieser surrealen Situationen fragt man sich dann aber, ob der Film eine Geschichte hat oder nicht. Schwer zu sagen. Aber vielleicht braucht und will Headbang Lullaby auch gar keinen konkreten Plot haben. Denn er handelt primär von einem Land mit einer gespalteten Gesellschaft in einer Zeit der Unruhe. Und jeder der absurden Charaktere und jede verrückte Szene sind Symbole und Metaphern für diesen Moment der marokkanischen Geschichte. Aber am Ende lernen wir, dass alle doch nur Menschen sind, die auch friedlich miteinander leben und voneinander lernen können.
Vielleicht wirkt Headbang Lullaby zu Beginn so verwirrend, weil man die Symbole nicht sofort als solche erkennt. Wir sind mit den Traditionen und der Geschichte Marokkos nicht vertraut. Es bedarf eines Momentes der Reflektion, um die Genialität des Films zu begreifen. Und die Farben haben sicherlich auch eine Bedeutung. Unvergesslich wird er dennoch für mich sein, vor allem der unkonventionellen Kameraführung wegen. Die Bilder sind farbenfroh und kontrastreich, die Einstellungen sensationell und teils sogar schwindelerregend. Die Bildsprache von Hicham Nasri ist gewaltiger und surrealer geworden, noch psychedelischer und halluzinierender als bei Starve your Dogs, der auf der letzten Berlinale lief.
Und dann wieder eine Tennisszene. Was sollen diese Tennisszenen überhaupt?
Großes Kino also! Mit Tennisplatz.
Jürgen
(Bildmaterial: Berlinale Filmstills, Sektion: Panorama)