Man stelle sich vor: Mehrere Bewohner eines Viertels zahlten regelmäßig einen kleinen Geldbetrag in einen Topf. Danach würde gemeinsam entschieden, wem davon etwas als erstes zukommen soll. Finanzen würden nach Notwendigkeit verteilt, Kinder lernten dieses System von den älteren Generationen und wüchsen mit dem Verständnis auf, dass Geld eine gemeinsame Angelegenheit ist…
In Rod El Farag, einem der ärmsten Stadtteile Kairos, wird dieses System schon seit einigen Jahren in finanziellen Gemeinschaften, den sogenannten „al Gami’yas“ gelebt. Das Viertel sieht sich selbst als große Familie. Jeder Einzelne trägt die Verantwortung für den Anderen mit.
Regisseurin Reim Saleh hat eine familiäre Verbindung zu diesem Ort. Ihre Mutter hat vor vielen Jahren Rod El Farag verlassen, wollte aber von ihrer Tochter genau hier beerdigt werden. So begann eine sieben-jährige Reise zu ihren eigenen Wurzeln in ein Viertel, das sich durch ein aus der Not geschaffenes „Union Banking System“ selbst versorgt.
Nach Mubaraks pseudodemokratischem System, jahrzehntelanger Misswirtschaft, Korruption und Unruhen, spielen sich bis heute dramatische Szenen in Ägypten ab. Der arabische Frühling kostete das Leben hunderter Zivilisten. Allein in den sieben Jahren Produktion dieser Doku wechselten gleich drei Präsidenten das Amt. Dennoch war es nicht die Intention der Regisseurin ausgerechnet dies abzubilden. Wahrscheinlich, weil sich die Bewohner in Rod El Farag eh als unabhängig von politischen Systemen begreifen. Sie sind zwar arm, aber an Stolz mangelt es ihnen nicht. Das wird sehr schnell deutlich.
Saleh beschäftigte sich daher eher mit dem Alltag der Leute im Viertel als sich an leidvollen Schicksalen aufzuhalten. Durch eine ausgesprochen nahe Interviewperspektive und ein kleines Filmteam gelingen ihr einladende und unmittelbare Aufnahmen einer Gemeinde die kontroverser nicht sein könnte. Wir begleiten Saleh’s Großcousine im Haushalt oder beobachten sie in der Nachbarschaft Geld eintreiben um es gleich wieder an andere zu verteilen. Hochzeiten werden wie Stadtfeste zelebriert, Familiengräber geteilt, Konflikte leidenschaftlich ausgefochten. Dazwischen werden brisantere Themen wie Geschlechterrollen und sogar Genitalverstümmelung verhandelt. Ein gelungenes Portrait ägyptischer Kultur und Traditionen und zugleich Spiegel der aktuell prekären Zustände Kairos.
Reim Saleh plant den Film auch in Ägypten zu zeigen. Bisher hatte sie jedoch noch nicht die Gelegenheit dazu.
Maike
Bildmaterial: Filmstill Berlinale, Sektion: Panorama