„Ole Giæver zeigt seinen neuen Film auf dieser Berlinale“- das war der erste Satz, den man von mir im Vorfeld des Festivals auf die Frage zu hören bekam, worauf ich mich wohl am meisten freute. Denn Giævers letztes Werk Mot Naturen, der vor zwei Jahren auf den Filmfestspielen lief und die Geschichte eines Mannes erzählte, der alleine in der Natur auf sich, seine Ängste und die Krise seiner Ehe zurückgeworfen wird, hat mich tief berührt und war damals mein Lieblingsfilm der Berlinale. Nachdem ich Fra Balkongen nun endlich gesehen habe, muss ich zweierlei feststellen: Erstens, wer hier eine Art geistigem Nachfolger zu Mot Naturen erwartet, wird von diesem Film halb bestätigt, halb enttäuscht. Zweitens, Fra Balkongen hat mich leider eher ernüchtert als begeistert zurückgelassen.
Worum geht es? Nun, um den Regisseur selbst. Giæver ist mittlerweile 38, Vater zweier Kinder, lebt in Oslo und lässt uns an den Gedanken teilhaben, denen er auf dem Balkon seines Appartments, bei einer Reise zum Haus seiner Kindheit oder in einem Hotelzimmer in Stockholm nachhängt. Aus dem Off erzählt uns seine ruhige Stimme diese Reflexionen, Ideen, Ängste, während über die Leinwand Aufnahmen seiner selbst mit den Kindern und Großeltern laufen, dazu gesellen sich alte Homevideos des jugendlichen Ole oder aberwitzige, selbst angefertigte Animationsvideos, die seine Geschichte untermalen. Dabei entstehen teilweise ergreifende Momente, wenn Giævers Stimme beispielsweise sagt, dass er sich selten bis nie freut, sondern meist nur so tut, den Menschen um ihn herum zuliebe. In direktem Anschluss daran zeigt er uns seinen Geburtstag, wie er lachend die Geschenke seiner Kinder öffnet und (in Zeitlupe gefilmt) ausgelassen mit ihnen auf einem Trampolin springt. Nicht nur hier drängen sich Erinnerungen an Mot Naturen auf, der mit ähnlicher Zartheit Schläge in die Magengrube des Zuschauers platzieren konnte, auch die inszenatorische Kreativität und der feine Humor, mit dem Giæver seine teilweise sehr tief gehenden Gedanken mit perfekt getimeten Einspielern ironisiert, ohne ihnen dabei die emotionale Schlagkraft zu nehmen, tragen eine unverwechselbare Signatur.
Anstatt auf der persönlichen Ebene zu bleiben, verlieren sich die Aphorismen Giævers leider im Verlauf des Filmes immer mehr in kosmologischen und anthropologischen Überlegungen. Dabei wären solche Auslassungen gar nicht notwendig gewesen und wirken eher wie pseudokünstlerisches und reichlich unoriginelles Gewäsch – und aus dem Kontext gerissene Aufnahmen von Massengräbern des Holocaust zu zeigen, nur um zu verdeutlichen, dass hinter „jeder abstrakten Zahl auch eine echte Person steht“ (wie komplett anonym bleibende Leichen diesen Punkt untermauern sollen, ist mir übrigens nicht klar), geht einfach gar nicht.
Dennoch bilden seine Reflexionen nicht nur den roten Faden dieses eher als Essay zu verstehenden Filmes, sondern schaffen für den Zuschauer auch ein Narrativ, mit dem die Familienaufnahmen ihrer Privatheit enthoben werden können. Wie wichtig das ist, wird in den Momenten klar, in denen uns keine Stimme aus dem Off durch die Bilder leitet und wir mit dem echten Ole Giæver und seinen echten Kindern alleine gelassen werden. Ohne die Geschichte, die uns versichert hier nur einen Film zu sehen, werden wir auf einmal zu unfreiwilligen Voyeuren eines Lebens, zu dem wir eigentlich gar keinen Zutritt haben wollen. So hat mich Fra Balkongen einige Male eher peinlich berührt als bewegt. In einer Szene fragt seine Frau den Regisseur, ob er mit diesen Home-Videos nicht etwas zu selbstbesessen sei. Nach einer kurzen Diskussion antwortet er „Vielleicht ist es das, ja, schon möglich.“ Dem kann ich mich nur anschließen.
Sven
Bildmaterial: Berlinale Filmstills, Sektion: Panorama