Ein Film über Erinnerungen – und zugleich über die Gegenwart. Florian Kunert, selbst 1989 im sächsischen Neustadt geboren, erkundet in seinem experimentellen Dokumentarfilm die Einstellungen und Erinnerungen ehemaliger DDR-Bürger*innen aus dem sogenannten „Tal der Ahnungslosen“ hinter Dresden, indem er sie einen „Deutsch-Orientierungskurs“ für syrische Geflüchtete geben lässt – inklusive gelebter Geschichte mit Pionierappellen und Uniformen. Klingt abgefahren? Ist es auch, und gerade deshalb ein (größtenteils) sehr gelungenes Erstlingswerk, das in der Perspektive deutsches Kino ebenso gut aufgehoben wäre wie im Forum.
Kunert geht dabei nicht klassisch dokumentarisch vor, sondern er verdichtet und „inszeniert Erinnerung“, wie es eine Vertreterin des Auswahlgremiums Forum nach der Premiere formulierte: Er arrangiert Gelegenheiten und lädt die Beteiligten in bestimmte Settings ein, die sie auf andere Weise sprechen lassen – jenseits eingeschliffener Sätze und Urteile.
Einer der Hauptschauplätze: die entkernten Werkshallen des ehemaligen Kombinats „Fortschritt“. Dort treffen sich etwa zwei ehemalige Werksangestellte mit den Geflüchteten, um beim Deutschlernen zu helfen. Danach kehrt die Kamera immer wieder hierher zurück und zu den umliegenden Ruinen bereits abgerissener Industriebauten: Die Bilder der Überreste vergangener Zuversicht, nun zu einem Inbegriff des Niedergangs und Zerfalls geworden, korrespondieren mal unterstreichend und mal kontrastierend mit den Aufnahmen der Einheimischen – etwa wenn der „Heimatchor“, sonntäglich zurechtgemacht, vor dieser Kulisse „bau auf, bau auf… für eine bessere Zukunft“ schmettert. Eine der Stärken des Films liegt darin, dass er sich bei der Interpretation des Gesehenen nie aufdrängt, sondern nur etwaige Widersprüche aufzeigt und unaufgelöst bestehen lässt.
Während ein ehemaliger Arbeiter betont, er empfände keine Nostalgie angesichts der Werkschließungen, bekennen sich andere zu ihrer Sehnsucht nach der alten Zeit. Zwei Frauen spielen mit den Geflüchteten einen Pionier-Appell nach: „Und dann kommst du nach vorn, Hand an die Stirn und dann sagst du, ‚Frau Müller, Klasse 2b ist zum Unterricht bereit… Seid bereit!“ – „Immer bereit“, antworten die befremdeten Syrer, rote Pionier-Halstücher („eine Auszeichnung“) um den Hals. Danach eine Frage: Ob es den Leuten in der DDR gut gegangen sei, ob sie zufrieden waren? Frau Müller, ohne zu zögern: „Ja!“ Das Leben sei einfacher, ruhiger gewesen, damals, während heute permanent jemand was von ihr wolle und sie könne, so sehr sie möchte, nicht allen gerecht werden. „Damals haben eben andere das Leben für einen organisiert.“
Diese Sehnsucht nach Führung, Disziplin und einem Leben in geordneten Bahnen zieht sich durch den ganzen Film und zeigt sich etwa auch, als zwei ältere Herren mit den jungen Syrern in GST-Uniformen das Antreten zur Wehrsportübung nachstellen. Die Idee, so erfahren wir (leider erst) im Nachgespräch, hatte der Regisseur, der auch die Uniformen besorgte – dass das im Film unerwähnt bleibt, lässt (wie ein Zuschauer in der Diskussion danach anmerkte) die alten Herren unfairerweise skurriler dastehen, als sie es womöglich sind. Wie schnell und umstandslos sie dabei jedoch in die alten Rollen und Routinen gleiten, spricht trotzdem für sich. (Als sich einer der Syrer lachend abwendet, schallt es reflexartig „Steh still, Mohammed“ – und der tritt sofort wieder in die Reihe.) Danach beglückwünscht einer der beiden die jungen Rekruten dazu, dass sie auf diese Weise die „lokalen Traditionen“ der örtlichen Jugend nacherleben könnten.
So sehr man sich immer wieder gruselt bei einigen Passagen, wird der Film dabei nie denunziatorisch (auch wenn das im Nachgespräch angedeutet wurde), vereindeutigt nie die gezeigten Widersprüche. Sind das nun Menschen, die auch mitlaufen (würden) bei Pegida-Demos, von denen Aufnahmen mitten im Film den Horizont des Films überdeutlich machen? Die AfD wählen? Immerhin wird immer mal wieder von notwendiger Assimilation geredet (allerdings bezogen auf das Leben in der DDR). Andererseits scheinen die Beteiligten selbst kein Problem mit den Syrern zu haben. Mit den rassistischen Anfeindungen, von denen einer der Syrer einem Freund am Telefon berichtet, haben sie eher nichts zu tun. Einer der ostdeutschen ‚Integrationshelfer‘, ein ehemaliger Ingenieur, war als DDR-Vertreter damals viel in Syrien unterwegs und hat sogar arabisch gelernt.
Die DDR pflegte enge Beziehungen mit dem syrischen Regime (dem Vater von Baschar Al Assad), syrische Arbeiter kamen auch zum Kombinat Fortschritt. Alte Image-Filme, die immer mal wieder zwischengeschnitten werden, beschwören die Freundschaft zwischen den Kollegen beider Länder, man sieht ostdeutsche Innenstädte mit Willkommensbannern und arabischen Schriftzeichen – aus heutiger Sicht geradezu surreal.
Der Clou von Fortschritt im Tal der Ahnungslosen ist, dass er gewissermaßen die Perspektive herumdreht. Die syrischen Beteiligten sind weniger Objekt des Films als vielmehr Ethnografen, Kundschafter in einem fremden Land mit seltsamen Sitten, die der Film mit ihnen und durch ihre Augen erforscht. Auch die Bewertung dessen, was wir da sehen erfolgt ausschließlich durch diese syrischen Völkerkundler – was in einer wunderbaren Szene mündet, in der die Bürgerkriegs- und Diktaturflüchtigen mitleidsvoll das elende Leben der ehemaligen DDR-Jugend kommentiert: Wie furchtbar das gewesen sei, permanent überwacht, gedrillt, nur Essen, Schlafen, Arbeiten – und am Ende noch eine Urkunde, nachdem sie ‚dein Leben abgefuckt haben‘.
Bildmaterial: Berlinale Filmstills; Berlinale Forum
Fortschritt im Tal der Ahnungslosen Sekttion: Forum (Regie: Florian Kunert Länge: 67' Produktion: