Chinesisches Kino wird auf Filmfestivals gerne durch eine ‚politische‘ Brille betrachtet: Jeder Film aus der Volksrepublik wird an seiner Antwort auf die Gretchenfrage nach der Systemkritik gemessen. Je klarer diese formuliert ist, desto wohlwollender wird der Film aufgenommen – außer natürlich, er wird von der Zensur kassiert, wie der diesjährige Wettbewerbsbeitrag Yi miao zhong (One Second) von Zhang Yimou, der aufgrund von „technischen Problemen“ abgesagt wurde (eine kritische Positionierung der Berlinale-Leitung hierzu steht übrigens noch aus, hust hust).
Di jiu tian chang (So long, my Son) von Wang Xiaoshuai ist diesem Schicksal entgangen, und das ist ein Grund zur Freude, da der Wettbewerb mit ihm seinen wohl besten Beitrag verloren hätte. Und ja, natürlich ist der Film auch politisch, und ja, dazu werde auch ich einige Worte verlieren. Unabhängig davon funktioniert So long, my Son aber als zeitloses Meisterstück über die entzweiende Kraft von Verlust und Schuld und die Möglichkeiten, diese zu überwinden.
Im Zentrum der Geschichte steht die Beziehung zweier Familien, die durch verschiedene Traumata auf die Probe gestellt wird – bzw. an ihnen bereits zerbrochen ist: Yaojun und Liyun haben nach dem Unfalltod ihres Sohnes Xingxing die Stadt verlassen und ihren besten Freunden Yingming und Haoyin den Rücken gekehrt. Deren Sohn Haohao war mit am Stausee, als Xingxing ertrank, und macht sich seitdem Vorwürfe. Über 30 Jahre hinweg folgt Wang seinen Figuren bei ihrem Umgang mit diesem Verlust und anderen Schmerzen, die auch mit Chinas Ein-Kind-Politik zu tun haben. Zwischen den Familien steht nämlich nicht nur Xingxings Tod, sondern ebenso der eines ungeborenen zweiten Kindes, für den Haoyin als Leiterin für Familienpolitik in der örtlichen Fabrik mitverantwortlich ist. Wir sind hier also mit hartem Tobak konfrontiert – und mit einer Menge Material. Die zwei Nebenstränge um den adoptierten „Ersatz-Sohn“ und um Haohaos Tante Milo, die ungewollt schwanger wird, lasse ich hier weg. So viele Figuren und eine so lange Zeit zu überblicken, scheint ein Ding der Unmöglichkeit – selbst mit drei Stunden Zeit die So long, my Son sich nimmt.
Wang Xiaoshuai muss dementsprechend einen Drahtseilakt bestehen: Ein großes Handlungsspektrum abbilden, die emotionale Bindung an seine Figuren behalten und zugleich nicht in Kitsch abrutschen. Das gelingt ihm in einer Kombination aus zurückgenommener Inszenierung einerseits und persönlicher Handlungsstruktur andererseits.
In den einzelnen Szenen wird Tragik und Schmerz durch behutsame, vor allem aber distanzierte und auktoriale Kameraarbeit aufgefangen. Sei es im Krankenhaus oder in Yaojuns Werkstatt, stets wirkt die Kamera unbeteiligt und ‚neutral‘, auch die manchmal im Hintergrund laufende, melancholische Musik ist unaufdringlich und wie beiläufig. Diese Distanz, die der Empathie mit den Charakteren hinderlich sein könnte, wird über die Struktur des Filmes wieder abgebaut: So long, my Son hält sich nicht an die chronologische Reihenfolge, sondern verknüpft vielmehr bestimmte Thematiken über alle Zeitebenen miteinander. Das hat viele Zeitsprünge zur Folge, die gerade zu Beginn des Filmes desorientierend und etwas überfordernd wirken. Zugleich entstehen auf diese Weise aber erzählerische Linien, die eher der assoziativen Struktur des Gedächtnisses nachempfunden scheinen: Jede Szene bringt Erinnerungen an die Vergangenheit mit sich, die im Anschluss daran gezeigt werden und die Gegenwart rekontextualisieren. So bleibt trotz der ‚objektiven‘ Inszenierung eine ständige Bindung an die Charaktere. Und nur so kann der Film dreißig Jahre überblicken und dabei nicht in die Breite, sondern in die Tiefe dringen.
Diese Tiefe ist teilweise atemberaubend. Langsam, aber sicher verrät Wang uns mehr über seine Figuren, schält Stück für Stück weitere Dimensionen ihres Schmerzes heraus, setzt immer wieder kleine emotionale Nadelstiche, ohne dabei den Blick auf den Kern seiner Geschichte zu verlieren. Als Ergebnis dieser geduldigen Arbeit steht mit dem Wiedersehen der vier Freunde nach über einem Jahrzehnt einer der bewegendsten Momente der jüngeren Kinogeschichte.
Die Ruhe und zugleich Emotionalität von So long, my Son ist auch dem hervorragenden Cast zu verdanken: Gerade die beiden Hauptdarsteller Wang Jingchun (Yaojun) und Yong Mei (Liyun) tragen mit ihrem ungemein subtilen Spiel jede Szene, in der sie auftreten. Auf ihren beherrschten Gesichtern spiegeln sich kleine, aber tiefe Emotionen, die in ihrer nichtsdestoweniger immensen Ausdruckskraft sprachliche und kulturelle Barrieren mit Leichtigkeit überbrücken. Um sie herum formiert sich natürlich auch die politische Schlagkraft des Films. Diese liegt auf den ersten Blick in seiner deskriptiven Betrachtung der persönlichen Kosten chinesischer Politik, mit der das Politische und das Private verschränkt werden. Allerdings schafft es der Regisseur auch, seine Hauptfiguren selbst als politische Subjekte darzustellen. Ihre Handlungskraft liegt nicht in aktivem Widerstand – von Yaojun und Liyun ist keine Revolution zu erwarten. Stattdessen sind sie politisch, einfach, weil sie aushalten, weil sie unter den Schmerzen des Lebens nicht zerbrechen und dabei weder ihre Verletzlichkeit verleugnen, noch ihre Menschlichkeit verlieren. Als bei ihrem Flug zurück nach Peking Turbulenzen auftreten, zucken beide ängstlich zusammen. Daraufhin lächelt Liyun und sagt zu ihrem Mann: „Es ist schon erstaunlich, dass wir nach allem immer noch Angst vorm Sterben haben.“ Beide lachen leise und lakonisch, und genau in diesem Lachen tritt ihre Würde offen zur Schau, die weder von Entlassungen, politischem Zwang noch von schlimmsten Schicksalsschlägen zerstört werden kann.
Sven
Di jiu tian chang (So long, my Son)