„Robert, ich schreibe am Montag Abitur! In Philosophiee [sic]!“ herrscht Elena (Julia Zange) ihren Zwillingsbruder Robert (Josef Mattes) an und liefert dem Publikum damit eine ungelenke Exposition. So wird also das „Philosophieren“ gerechtfertigt, das uns Philip Grönings Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot aufbürdet und das in einen wohl als erschütternd beabsichtigten Gewaltexzess mündet. Dieses späte Schreien, Schießen und Ficken gerät aber ebenso ermüdend, wie das ihm vorangehende Gelaber und Gehabe geschwollen und oberflächlich ist. Man würde es gerne dabei belassen und nicht noch mehr Zeit auf diesen ach so bedeutungsschwangeren und selbstgefälligen Film verwenden, nachdem man an ihn schon drei Stunden und eine Menge Lebenslust verloren hat. Gerade die prätentiösesten Filme ziehen sich aber auf das gute alte „vielleicht ist dir das eben zu hoch“-Argument zurück, um solche zugegebenermaßen destruktive Kritik an sich abgleiten zu lassen. Es braucht also noch ein paar Zeilen mehr.
Zur Vorbereitung auf ihr Abitur sitzt Elena also mit ihrem Bruder in den Feldern der süddeutschen Pampa. Robert ist zwar sitzengeblieben, versteht aber anscheinend ganz viel von der „Arbeit an der Wahrheit“ und kann seiner Schwester daher im besten Oberlehrerton die fundamentalen Fragen über die Zeit mansplainen. Diese kaum erträglichen Lernsitzungen werden durch verschiedene Spielereien und Wetten immer wieder unterbrochen: Bei der Tanke Bier holen, im See Luft anhalten, Wettrennen im Sonnenuntergang, und natürlich einen Sexpartner für Elena finden. Die ist von Roberts Beziehung mit ihrer Freundin nämlich nicht sonderlich begeistert – das wird vielleicht klar, wenn sie im Stakkato über ein Dutzend mal „Ich heiße Robert und liebe Cecilia!!“ brüllt und dabei immer hysterischer wird. Subtil. Auf jeden Fall wettet sie mit Robert, dass sie bis Montag auch jemanden vögelt. Die körperliche Nähe der beiden, die stets zwischen zärtlichen Streicheleinheiten und wütenden Schlägen oszilliert, wirft natürlich die Frage auf, wer denn dieser Jemand sein könnte. Aber darum geht es ja gar nicht so sehr. Viel wichtiger ist schließlich die Zeit.
Deren Wesen erschließen sich die beiden durch Monologe Roberts über Augustinus und vor allem Heidegger, oder eher: Rezitationen von Augustinus und Heidegger. Philosophische Unkenntnis erkennt man man recht gut daran, dass Zitate ohne Erklärung aneinandergereiht werden, als ob sie für sich genommen bereits die „große Weisheit“ darlegten. „Der Sinn des Seins ist die Zeit.“ – und wenn du jetzt fragst, was das genau bedeutet oder was das „Sein“ bei Heidegger überhaupt sein soll, dann hast du die große Philosophie halt nicht verstanden. Die tatsächlichen Erkenntnisse des Filmes belaufen sich dann auf Setzungen, wie man sie in Einführungsliteratur findet: Die Gegenwart ist also der flüchtige Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft, und die existieren nur als Vergangenes, soso, quod erat demonstrandum. Dieses philosophische Dünnbrettbohren überträgt sich auch auf die Struktur des Filmes: Wenn du drei Stunden im Kino sitzst und sich scheinbar endlose Wiederholungen des immergleichen Rumgewichses anschauen musst, dann merkst du bestimmt, das Zeit irgendwie langsam vergehen kann, oder aber sehr schnell. Für diese Trivialität könnte man auch zehn Minuten bewusst an der Friedrichstraße stehen.
Freilich sähe man dort keine Nahaufnahmen von fragmentierten Körpern im weichen Sommerlicht. Deren Schönheit kann aber den Überdruss, den jede gemeinsame Szene der Geschwister mit sich bringt, nicht nur nicht aufwiegen; nach etwa einer halben Stunde hat man sich an ihr auch überfressen und leidet die resltichen zweieinhalb Stunden eher an visuellem Sodbrennen. Die regelmäßig eingestreuten grobkörnigen Close-Ups auf Insekten und Wassseroberflächen lassen zudem in Verbindung mit dem anthropo-ontologischen Geschwafel schauderhafte Erinnerungen an Terrence Malick wach werden. Und jeder Sinn für Schönheit verfliegt in dem Moment wieder, in dem Josef Mattes geckenhaft durchs Bild schwadroniert, läuft oder glotzt. Julia Zange porträtiert Elena zwar die meiste Zeit über gemäßigter und undurchschaubarer, ihre forcierten Wutausbrüche sind jedoch nicht weniger Grund zum Fremdschämen als das gesamte Spiel ihres Counterparts. Dementsprechend unglaubwürdig bis lächerlich bleibt auch die zwangsläufige Eskalation, die das eingeschläferte Publikum in der dritten Stunde wohl wachrütteln und verstören soll. Doch was wie ein uninspirierter Versuch anmutet, Szenen aus dem Obszönen Werk Georges Batailles abzubilden, sollte nun wirklich niemanden mehr hinter dem Ofen hervorlocken.
Philip Gröning, so legt es Mein Bruder Robert nahe, versteht wenig von Pubertät und noch weniger von Philosophie. Er verwechselt Repetition mit Kontemplation, Langeweile mit Dauer, Geschrei mit Emotion. Er verwechselt Arroganz mit Cleverness, das Zitieren philosophischer Sinnsprüche mit tatsächlichem Philosophieren und Fremdscham mit Kontroverse. Als letzter Ausweg in der Konfrontation mit diesem pseudo-intelletkuellen, letztendlich aber nichtssagenden Mist bleibt mir nur ein schmerzhafter Zynismus, vor dem auch dieser Verriss trieft. So habe ich wenigstens ein klein wenig Katharsis, wenn ich schon die Lust am Filmegucken nicht mehr zurückbekomme.
Sven
Bildmaterial: Filmstill Berlinale, Sektion: Wettbewerb