Wenn Menschen jenseits der siebzig tanzen, flirten und lieben – Bettina Blümners Dokumentarfilm „Parcours d’amour“
Menschen ab einem gewissen Alter stellt man sich gewöhnlich nicht mehr als Liebende vor – oder ausschließlich als liebevolle Großeltern. So wie ihre Kleidung sich langsam entfärbt und einem undefinierbaren Beige zustrebt, so scheint auch ihre Sexualität zu verblassen. Ihre Libido, so meinen wir, schaltet sich vermutlich irgendwann von selber ab. Am liebsten aber denken wir gar nicht weiter darüber nach: Die Kombination von Alter und Sex löst in den Jüngeren ein diffuses Unbehagen aus.
Bettina Blümner zeigt nun in ihrem jüngsten Dokumentarfilm „Parcours d’amour“ mit angenehmer Selbstverständlichkeit, dass – zumindest in Paris – natürlich auch Menschen im hohen Alter das Bedürfnis und die Fähigkeit haben können, zu lieben und sich sexuell auszuleben. Das heißt: Sie zeigt uns einfach einige ältere Menschen, die aus ihrem Leben erzählen. Von tragischen Episoden aus ihrer Jugend und überwundenen Krankheiten, von zahllosen Affären und unglücklichen Ehen; davon, welche Rolle die Liebe für sie spielte und, trotz allem, immer noch spielt. Und sie erzählen von dem ihnen allen gemeinsamen Bedürfnis, zu tanzen.
Jeden Nachmittag treffen sie sich mit anderen Menschen jenseits der sechzig in traditionsreichen Pariser Tanzcafés, mit Namen wie „Memphis“ oder „Chalet du Lac“. Das Tanzen erscheint als Medizin und Jungbrunnen, als das, was sie gegen alle Widerstände am Leben hält. Aber es ist auch, für viele, eine selbstverständliche Gelegenheit zum Flirten. Tanzen und Lieben sind, zumindest für die beiden befreundeten Frauenhelden Gino und Eugène, im Prinzip das Gleiche. Und eine monogame Beziehung ist ihnen ganz unvorstellbar. Wenn man tanze, könne man sich doch unmöglich auf ewig mit einer einzigen Frau begnügen.
Besonders Eugène behauptet, nie eine feste Lebensgefährtin gewollt zu haben. Und doch sieht man ihn einmal sehr lange und sehr einsam schweigend auf seinem Bett sitzen, den Blick auf etwas gerichtet, dessen Charakter wir aufgrund des Erzählten zumindest erahnen können. Vielleicht einer der stärksten Momente des Films.
Ganz im Stile ihres ersten Langfilms „Prinzessinnenbad“ (2007) nähert sich Bettina Blümner ihren Protagonisten neugierig, aber unaufdringlich, mitfühlend und doch unvoreingenommen, ohne das Gesagte und Geschehene zu kommentieren. Der Blick der Kamera wirkt zärtlich, nie bloßstellend. Mitunter gelingt es der Regisseurin, Zuschauer wie Porträtierte die Präsenz der Kamera fast vergessen zu lassen. Blümner erzeugt hier, sehr behutsam, eine irritierende Intimität mit den Menschen, ohne dabei voyeuristisch zu werden. Die erotischen Bedürfnisse der Protagonisten werden allein über deren Erzählungen, über ihre Blicke und ihr Schweigen greifbar. Der offene Umgang des Films mit Liebe und Sexualität jenseits jugendlich-erotischer Idealkörper wirkt am Ende ganz selbstverständlich.
In der Vielfalt der individuellen Geschichten entsteht auch eine Art Kaleidoskop der Liebesformen: pragmatisch und romantisch, als Affäre und als Heirat, als zärtliche oder käufliche Zuneigung oder als eine Mischung aus beidem. Mit vorurteilsfreiem Blick lässt der Film all diese Liebesäußerungen gleichermaßen gelten. Auch der Titel, verstanden als Wege der Liebe, legt nahe, ihn als Plädoyer gegen den Jugendwahn, für einen amourösen Pluralismus zu deuten, auch wenn die Regisseurin die Frage verneint, ob sie ein solches denn im Sinn gehabt habe.
Eigentlich beziehe sich der Titel, sagt sie, auf die „Höhen und Tiefen, das Auf und Ab der Liebe“, im Sinne eines Hindernislaufs. Auch im Alter bleibt die Liebe kompliziert – in den Worten Bettina Blümners: „Die Protagonisten haben ja letztlich ähnliche Probleme wie die Mädchen aus ,Prinzessinnenbad‘, bloß dass sie eben 50 oder 70 Jahre älter sind. Außer dem Alter hat sich eigentlich nicht so viel geändert.“
Ab Donnerstag (04.06.15) im Kino
Costja