Jede Nacht das gleiche Ritual. Wir fallen zu Unzeiten aus dem Bett, wir stolpern in die U-Bahn, wir rattern durch die dunkle Stadt. Wir kommen aus verschiedenen Richtungen, aber haben das gleiche Ziel: die Eichhornstraße 3. Auf den letzten Metern beschleunigen sich die Schritte, wir verfallen in eine Gangart irgendwo zwischen Nordic Walking und Rennen. Man ist ja nicht zum Spaß hier. Die Rivalität hält solange an, bis wir uns nacheinander in die noch überschaubare Schlange eingereiht haben und gemeinsam auf den Kaffeewagen warten.
Wir sind der Club der Außergewöhnlich-Früh-Aufsteher, der Schlangen-Könige, der Berlinale-Streber.
Wir frieren im Dunkeln – aber nur bis halb 7, dann öffnen sich die heiligen Hallen der Ticket-Counter und wir schlagen unser Lager im Warmen auf; unsere Schlange der hundert Auserwählten nimmt nun Mäanderform an. Die nächsten zwei Stunden, bis die Schalter öffnen, verbringen wir in der wohligen Gewissheit, alle Tickets zu bekommen, die wir haben wollten. Manche sitzen, das Programmheft studierend, auf dem Boden, andere vertiefen sich in Unterhaltungen mit ihren Nachbarn über die Tops und Flops des Programms, vereinzelte Nachzügler gesellen sich dazu.
Mittlerweile kennen wir die wiederkehrenden Gesichter: Da ist der Rothaarige, der immer ganz vorn steht und scheinbar die ganze Schalter-Crew mit Vornamen kennt – wenn er einmal nicht kommt, löst das schon Verwunderung aus; wer seine Stelle einnimmt, erhält wohl das Privileg, die vordere Empfangsdame zu umarmen; da sind die Franzosen, die immer hinter uns campieren und pennen; da ist der, der schon seit fünfzehn Jahren dabei ist; da ist das Mädchen, das fast immer direkt neben uns in der Schlange steht… – und wir vier Kinder natürlich, die laut und aufgedreht durcheinander quasseln.
Kurz vor dem mit Applaus honorierten Einzug der Schaltermitarbeiter kommt Bewegung in die Schlange, schwillt die allgemeine Euphorie und Lautstärke an. Dann geht alles ganz schnell, nach wenigen Minuten haben wir alle erfolgreich unsere Tickets abgesahnt und tänzeln beschwingt, mit einem überlegenen Grinsen aus der Schalterhalle – vorbei an den Später-Gekommenen, die uns neidische Blicke zuwerfen und gierig aufrückend unsere Plätze einnehmen. Draußen bestaunen wir mit einer Mischung aus Triumph und Mitgefühl die Hunderte Meter lange Schlange der Nachzügler, bevor wir wieder jeder für sich in die Kinos hetzen.
Egal ob vereinzelt oder zusammen, wir sind alle Teil des Clubs. Und haben allesamt einen ausgezeichneten Filgeschmack. Finden wir. Unsere allmorgendliche Leistung ist Beweis genug.
Nachtrag: Ausnahmen bestätigen die Regel – wie wir nach den Anstehenden für Fifty Shades of Grey wissen, die heute morgen die Spitze der Schlange bildeten (und nicht mal die Empfangsdame umarmt haben!).