Unangenehm! Aber gut, ne?- Surge von Aneil Karia

Immer wieder laufen auf der Berlinale Filme, die ihren Zuschauer*innen allgemeines Unwohlsein vermitteln wollen. Oft sind das eher platte und ätzende Gorefeste (doof) oder herzzerreißende Dokumentationen (schön, aber traurig). Surge von Anail Karia schafft aber das Kunststück, sowohl nervenaufreibend als auch ungemein rührend zu sein. Oha!

Ben Whishaw brilliert als Joseph, einem weitgehend von der Gesellschaft isolierten Sicherheitskontrolleur an einem Londoner Flughafen. Zunächst macht Joseph einen etwas schüchternen aber bodenstädigen Eindruck. Als er aber anfängt, gewaltsam auf seiner metallenen Gabel zu kauen, stieg in mir, der bei oralen Reizen sehr sensibel reagiert, das erste Mal blankes Entsetzen auf. Meine Reaktion war dementsprechend vielleicht übertrieben, allerdings wird durch die Kompulsivität dieses Bisses bereits die Istabilität etabliert, mit der Joseph durch sein eingeengtes Leben geht. Eine Verkettung unglücklicher Umstände, Stress und zunehmender Isolation führen schließlich zum titelgebenden Surge, Josephs eruptionsartigen Ausbruch aus der Gesellschaft und dem mentalen Gefängnis, in dem er so lange eingesperrt war. Die Rebellion des Außenseiters und ihre zunehmende Eskalation machen das Seherlebnis zunächst noch eine ganze Stufe schwieriger und unbequemer mitanzusehen. Man sorgt sich konstant um das Wohlergehen der Umstehenden, aber vor allem um Joseph selbst. Die hektische und oft ungenau wirkende Inszenierung von Aneiol Karia, der hier übrigens sein Langfilmdebüt abliefert, trägt daran einen erheblichen Anteil. Je weiter sich Joseph dabei von seinem früheren Ich entfernt, umso wohler fühlt er sich in seiner Haut, was nach und nach auch auf das Publikum abfärbt. Wir realisieren, dass es ihm hier nicht um Selbstzerstörung, sondern um Selbstfindung und die Sprengung der eigenen Ketten geht. So transportiert Surge letztlich auf groteske Weise die Botschaft, dass man nur zu sich selbst finden kann, wenn man bereit ist, über den eigenen Schatten zu springen und notfalls auch die Konsequenzen davon hinzunehmen.

Getrübt wird das Erlebnis allerdings davon, dass die Eskalation gen Ende des 2. Drittels etwas repetitiv gerät. Das soll aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Aneil Karia hier ein spannender und interessanter Film gelungen ist, dessen Botschaft ich mir (vielleicht) zu Herzen nehmen werde, auch wenn ich möglichst versuchen werde, sonst keine von Josephs Entscheidungen nachzuahmen – vor allem nicht auf Gabeln beißen!

Janosch


Sektion: Panorama
Vereinigtes Königreich 2020
Regie: Aneil Karia
Buch: Rita Kalnejais, Rupert Jones
Mit: Ben Whishaw, Ellie Haddington, Jasmine Jobson, Ian Gelder
Länge: 99’

Bildmaterial: Berlinale Filmstills: Panorama

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