Dass das ‚europäische Haus‘ sich in keinem guten Zustand befindet, hören wir ja schon seit einer Weile. Mort à Sarajevo (Death in Sarajevo) von Danis Tanović nimmt diese Metapher wörtlich und projiziert die europäische Gemengelage auf ein kriselndes „Hotel Europa“ in Sarajevo, in Anlehnung an Bernard-Henri Lévys geichnamiges Theaterstück. Klingt nach einer spannenden Versuchsanordnung – aber geht sie auch auf?
Die Filmhandlung, die sich vollständig im (und auf dem) Hotel abspielt, beschränkt sich auf wenige Stunden am 100. Jahrestag des Attentates von Sarajevo auf den österreichischen Thronfolger Franz-Ferdinand, das zum Anlass für den Ersten Weltkrieg wurde und dadurch insbesondere die gesamte Balkanregion nachhaltig prägte. Ein Datum, das seitdem immer wieder von verschiedenster Seite, im je eigenen Sinne, politisch instrumentalisiert wurde; und dessen Interpretation bis heute hochgradig politisch aufgeladen ist, wie wir gleich zu Beginn des Filmes lernen: Auf dem Dach des Hotels wird live ein Fernseh-Talk produziert, der im Gespräch mit Historikern und Philosophen die Geschehnisse aus verschiedenen Perspektiven aufarbeiten und einordnen soll. Als dabei schließlich auch ein gleichnamiger Nachfahre Gavrilo Princips, des Attentäters von 1914, zu Wort kommt, entbrennt ein heftiges Wortgefecht mit der Moderatorin, das sich hinter der Kamera fortsetzt und zugleich eine Auseinandersetzung zwischen ethnischen Gruppen wie eine zwischen liberalem und faschistischem Lager darstellt. Während man in den Einzelheiten der gegenseitigen Anschuldigungen ohne Vorwissen schnell den Überblick verliert, zeigt sich dennoch, dass es um die gute alte Schuldfrage geht: Wer hat wen umgebracht? Inwiefern war das gerechtfertigt? Klar wird auch, dass die Antwort auf diese Fragen entlang ethnischer Grenzziehungen sehr gegensätzlich ausfällt, wie aussichtslos die Annäherung, ja selbst das bloße Gespräch zwischen diesen Positionen erscheinen muss; dass beide Lager sich von diesem Europa nichts mehr erwarten, dass sich irgendetwas ändern muss; und dass doch beide ziemlich ratlos sind, was und wie sich da ändern ließe.
Parallel zu diesem dialogischen Diskurs über die große Politik und ideologische Differenzen – architektonisch wie symbolisch gewissermaßen der Überbau – machen sich die Service-Kräfte im Untergeschoss – dem Unterbau? – für einen Generalstreik bereit, weil sie seit zwei Monaten nicht bezahlt wurden und den erwarteten Besuch einer ominösen EU-Delegation als perfekte Gelegenheit erscheint, um Aufmerksamkeit zu erregen. Und mittendrin versucht ein überfordertes Mangement, den Streik mit erpresserischen Methoden zu verhindern, weil er den reibungslosen Ablauf eben dieses Besuches als einzige Chance ansieht, das Hotel aus seiner chronischen Krise zu führen. Und dann ist da noch ein streng bewachter französischer Ehrengast, der in der Präsidenten-Suite mit selbstverliebtem Gestus eine Europa-Rede zu proben scheint – deren identitärer Pathos in entlarvendem Kontrast zu den prekären Verhältnissen und radikalen Differenzen steht, die sich vor seiner Tür abwickeln…
Der Film entfaltet also unter dem Brennglas, teils diskursiv-explizit, teils symbolisch-implizit, ein Panorama europäischer Krisenhaftigkeit: radikalisierte ideologische Konflikte, prekarisierte Arbeit, knappe Haushalte, korrupte oder überforderte Politiker; und über allem schwebend ein zynisches Klima neoliberaler Perspektivlosigkeit und bröckelnder Solidarität, präsentiert zum sedierenden Gedudel der Fahrstuhlmusik.
Das klingt als Konzept recht ambitioniert und auch die filmische Umsetzung schafft an einigen Stellen tatsächlich ziemlich gelungene Momente. Und doch schmeckt das Ergebnis alles in allem ein wenig fad, merkwürdig banal im Angesicht des gegenwärtigen europäischen Problemspektrums. Das hat, so glaube ich, zwei Gründe: Einerseits gehen seine Analogien (innerhalb des Films) allzuglatt auf; andererseits greifen genau diese angedeuteten Parallelisierungen viel zu kurz, und erscheinen doch arg vereinfachend angesichts der komplexen Gemengelage. Vielleicht aber besteht das eigentliche Problem vielmehr darin, dass der Film – unter anderem durch die Namensgebung des Hotels – so emphatisch die Gleichsetzung seines Mikrosettings mit der gesamteuropäischen Lage aufzudrängen scheint (obwohl es durchaus möglich wäre, dass diese Wahrnehmung zum Teil der Erwartungshaltung des Rezensenten selbst entsprungen ist). Als Lokalanalyse der osteuropäischen Verhältnisse macht der Film immerhin, wenn auch etwas überengagiert, durchaus keine schlechte Figur. Zugegeben, auch in dieser Lesart fehlen etwas die Zwischentöne, die künstlerische Sublimierung seiner Botschaft (die Yarden so großartig macht); trotzdem zeichnet er, gerade für ein (westliches) Publikum ohne großes Vorwissen, ein eindrückliches – und eher pessimistisches – Bild der Konfliktlinien auf dem Balkan und das desillusionierte bis scheinheilige Verhältnis zwischen europäischem Zentrum und Peripherie.
Oben auf dem Dach diskutieren die Moderatorin und der ‚Provinztrottel‘ einmal die Frage, ob es heute noch etwas verändern würde, jemanden zu erschießen. Natürlich nicht, ist die Moderatorin überzeugt – wer sollte das denn sein, wenn doch die Machtbeziehungen so komplex und unsichtbar geworden sind? Am Ende wird, der Titel lässt es erahnen, trotzdem jemand erschossen – rein zufällig, bloß ein weiterer Kollateralschaden. Ändern wird es nichts. Die Fahrstuhlmusik läuft weiter, als wäre nichts geschehen.
Constantin