Zur 70. Berlinale haben sich die neuen Festivalorganisator*innen was ganz Besonderes ausgedacht: Mit Encounters gibt es eine neue Sektion, die vor allem neue Wege gehen und „ästhetisch und strukturell wagemutigen Arbeiten von unabhängigen, innovativen Filmschaffenden eine Plattform bieten“ will. An sich eine sehr spannende Idee. Zur Premiere von Malmkrog von Cristi Puiu stand dann auch Carlo Chatrian, der neue künstlerische Leiter des Festivals auf der Bühne, erklärte das Konzept und machte uns heiß auf einen einzigartigen Film. Dann schauen wir mal, Encounters, kann das was? Ich war gespannt.
Spoiler: Meh. Malmkrog ist vor allem dreieinhalbstündiges aristokratisches Rumgepimmel, das zwar Potential zur Dekonstruktion der abgehobenen Protagonist*innen und ihres Standes hat, diese Chance aber gänzlich verspielt und schließlich ins Leere führt.
Moment, das war zu schnell – auf Anfang: Fünf überaus aristokratische russische Aristokraten verbringen Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts gemeinsam die Weihnachtstage, dinieren und diskutieren und diskutieren und diskutieren. Der Film ist in 6 Akte unterteilt, wobei jeder Akt nach einem Mitglied der elitären Gesellschaft und einer nach dem Oberbediensteten benannt ist. An Themen mangelt es der meinungsstarken Bande nicht. Ist Krieg schlecht oder doch glorreich und ehrenhaft? Was macht Russen „kulturell“ zu Europäern, und wieso sind Europäer viel toller als alle anderen? Welche Bibelauslegung ist die geilste? Und wie definiert Protagonist Nikolai den Antichristen? Normaler 19. Jahrhundert-Adelskram halt. Die Diskussionen bestehen vor allem aus sich abwechselnden minutenlangen Monologen, die von kurzen Zwischenfragen der anderen gespeist werden. An dieser Stelle ein kurzes Kompliment an die Schauspieler*innen: Ich habe wahrscheinlich noch nie einen Film gesehen, der ein derart riesiges Skript hat. Die Menge an Dialog und vor allem Monolog, die jeder der 5 Hauptdarsteller*innen für diesen Film hat einüben müssen, würde sonst für mindestens 5 Filme reichen und allgemein machen sie ihre Sache sehr gut.
Das Problem ist aber, dass die Diskussionen von einem heutigen Standpunkt aus gesehen komplett hinfällig sind. Die Grauen des Krieges hat uns das 20. Jahrhundert gelehrt, der Antichrist ist allenfalls noch Thema in trashigen Horrorfilmen und die Überlegenheit europäischer Kultur… ok, da hat sich leider nicht so viel geändert in den letzten 120 Jahren. Ein weiteres heute relevantes Thema wäre die Rolle des Patriarchats. Im Laufe des Films übernehmen die beiden Männer Edouard und Nikolai immer mehr die Kontrolle über die Gesellschaft. Akt 5, „Olga“ besteht quasi nur aus Nikolais Mansplaining, während Olga brav Nachfragen stellt. Wie bei der Hierarchisierung von Kultur bezieht der Film hier keine eigene Stellung und schleudert diese Themen einfach unkommentiert in den Raum, sodass es an uns liegt, die Aussagen kritisch zu hinterfragen. Wenn Malmkrog relevante Themen der Gegenwart abhandeln wollte, ist dies auf jeden Fall nur mangelhaft geschehen.
So wirken die Diskussionen vor allem wie banales Gelaber, und sie machen den allergrößten Teil der 200 (!) Minuten Spielzeit aus. Trotzdem hat mich der Film sehr lange bei der Stange gehalten. Das liegt daran, dass es immer wieder Momente gab, die mich aus den drögen Diskussionen herausrissen. Einer der Gäste kippt unvermittelt um, wir sehen, wie der Oberbutler seine Untergeben terrorisiert und plötzlich herrscht große Verwirrung und sogar Hilflosigkeit bei der Feiergesellschaft, als kein Diener auf das Klingeln des Tischglöckchens reagiert. Diese kleinen Katastrophen dekonstruieren die Standesgesellschaft Stück für Stück und in der ersten Hälfte des Films scheint es, als würden sie immer weiter eskalieren, weshalb ich der weiteren Entwicklung durchaus entgegenfieberte. Die Phrasendrescherei ignorierte ich größtenteils und konzentrierte mich stattdessen gespannt auf den Hintergrund. Allerdings kehrte der Film nach einem großen Knall am Ende von Akt 3 (von 6, remember) aus welchem Grund auch immer zurück zur langweiligen Tagesordnung und stellte die so vielversprechende Eskalation der Ereignisse komplett ein. Nach knapp drei Stunden voller Hoffnung dämmerte mir, während Nikolai mithilfe von Bibelpassagen seine Weltsicht dahinsäuselte, dass ich an der Nase herumgeführt wurde und die Katharsis, die ich mir herbeiwünschte, ausbleiben sollte.
Was bleibt ist die frustrierende Erfahrung, dreieinhalb Stunden lang adeligen Adeligen bei der Erörterung der ganz wichtigen Themen (aja) zugeschaut zu haben. Das große Potential auf eine spannende Talfahrt für die Aristokratie und auf einen Abgesang auf die Klassengesellschaft wurde leider verschenkt. Neue Wege beschreitet der Film sicherlich, aber ich hoffe sehr, dass da bei Encounters noch mehr geht.
Janosch
Sektion: Encounters
Regie und Buch: Cristi Puiu
Mit: Frédéric Schulz-Richard, Agathe Bosch, Diana Sakalauskaité, Marina Palii, Ugo Broussot
Produktion:
Länge: 200’Bildmaterial: Berlinale Filmstills: Encounters